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Der große Vorsitzende
Prof. Dr. U. Kutschera, ›großer‹ Vorsitzender der AG Evolutionsbiologie,
stand schon lange auf meiner Vorwarnliste für die Rubrik
»Übergrößen«. Nachdem er jetzt auch noch eine
(zweimonatige) Gastprofessur von der Stanford University erhalten hat, ist der Zeitpunkt
gekommen, ihn in die Ruhmeshalle übergroßer Forscher aufzunehmen.
›Ähre, wem Ähre gebührt!‹
[PDF-Datei, 335 kb]
Im April 2007 habe ich auf meiner Website den Beitrag
»Von Egeln und Engeln«
eingestellt. Darin habe ich gezeigt, dass der karrierebewusste Forscher U. Kutschera seine Selbstmotivation aus einer Lügen- oder
doch zumindest Selbsttäuschungsgeschichte bezieht und über ein vorsintflutliches Wissenschaftsverständnis verfügt. Nicht
ganz unerwartet schlug der Beitrag hohe Wellen. Umgehend veröffentlichte Kutschera im Newsticker der AG Evolutionsbiologie die
Gegendarstellung »Der Kasseler ‚Lügenprofessor’«.
Zu meinem Erstaunen hat er in der Überschrift meine Vorwürfe nicht nur aufgegriffen, sondern auf die Spitze getrieben.
Im Text selber weist Kutschera allerdings alle Vorwürfe vehement zurück: Er unterstellt mir völlige Inkompetenz
in biologischen Sachfragen und religiöse Motive für meine ›unqualifizierten‹ Attacken gegen die AG Evolutionsbiologie.
Ferner kündigt er eine juristische Prüfung wegen öffentlicher Verleumdung bzw. Beamtenbeleidigung (einen Tatbestand,
den es meines Wissens gar nicht gibt) an.
Weil die Gegendarstellung von schwülstiger Empörung und herablassender Selbstgefälligkeit getragen war,
habe ich nicht weiter darauf reagiert und sie auf meiner Website verlinkt. Kurze Zeit später erhielt ich ein Schreiben
des Justiziariats der Universität Kassel in dem ich höflich gebeten wurde, mich ›verbal‹ etwas zu
mäßigen. In der Juniausgabe der Zeitschrift Laborjournal erschien dann auf meine Initiative hin
ein ausführlicher Hintergrundbericht mit dem Titel »Angriff auf einen Evolutionsbiologen«.
Darin stellte der Redakteur Hubert Rehm klar, dass ich weder ein Kreationist noch ein religiös motivierter
Kritiker der AG Evolutionsbiologie bin. Dieses Gerücht wird vom Kutschera-Club seit Jahren wider besseres
Wissen mit dem Ziel gestreut, meine massive Kritik an dessen Vorgehen zu entwerten. Der Kutschera-Club: »Menting
ist ein Kettenhund des Kreationisten Lönnig«; Rehm: »Auf Mentings Website ist wenig Religiöses
zu finden. (...) Christopher Handmann ist kein Kreationist, sondern ein Rebell.«
Weniger erfreulich für mich war aber, dass Rehm aufgrund seiner Recherchen zu dem Ergebnis kam,
dass alle meine Vorwürfe gegen Kutschera haltlos sind. Dies konnte ich nicht unkommentiert stehen
lassen. Das Laborjournal hat Renommee und ist für seinen investigativen Journalismus bekannt.
Hier gab es für mich nur zwei Möglichkeiten, entweder einzugestehen, dass ich mich (und damit
auch andere) getäuscht habe oder zu zeigen, dass Rehm die Faktenlage falsch dargestellt oder
bewertet hat.
Da ich meinen Artikel sorgfältigst recherchiert hatte, war schnell entschieden, dass ich eine
Richtigstellung schreiben muss. Dies war zwar eine »schnelle«, aber keine leichte
Entscheidung, denn in den letzten Monaten hatte ich mich hinlänglich mit den seltsamen Methoden
von Kutschera (und seinem Club) beschäftigt und freute mich darauf, neue Herausforderungen
anzugehen.
Dieses Vorhaben habe ich erst einmal vertagt und stattdessen eine umfangreiche Replik geschrieben. Darin werden wesentliche
Teile des Laborjournal- Berichts Passage für Passage zitiert und von mir kommentiert. Ein aufwändiges Unternehmen,
das aber notwenig ist, weil viele Leser nur das von der AG Evolutionsbiologie in ihrem Newsticker oder Internetforen
hinausposaunte Resümee (»Kutschera vom Laborjournal rehabilitiert …«) und nicht
den Bericht selber kennen.
LJ :
»Was ist dran an Mentings Vorwürfen der unberechtigten Erstbeschreibung der Brutpflege beziehungsweise
der falschen Beschreibung einer neuen Art?
Kutscheras erster Artikel über die Brutpflege bei dem Egel Helobdella stagnalis, einem engen
Verwandten von Helobdella triserialis, erschien 1986 in Animal Behaviour (34:941-942). Kutschera
hat in diesem Artikel Herrn Pederzani nicht zitiert, denn (so Kutschera) er habe damals keine Kenntnis
von dem Artikel gehabt. In der Tat: Welcher westliche Wissenschaftler las damals schon deutschsprachige
Aquarienliebhaber-Zeitschriften aus der DDR?«
GM: Kutschera zählt zu den ausgesprochen publikationsfreudigen Mitgliedern des Wissenschaftsbetriebes.
Seine vermeintliche Erstentdeckung der aktiven Jungenfütterung bei Egeln der Gattung Helobdella hat er 1986 nicht
nur in der Zeitschrift Animal Behaviour, sondern auch noch in Ethology und Mikrokosmos vermarktet. Bei einem
solchen Hang zum Publizieren bleibt nicht selten die sorgfältige Recherche auf der Strecke. Kutschera schreibt, er
habe damals keine Kenntnis von dem Artikel gehabt und Rehm rechtfertigt dies mit der suggestiven Frage, »welcher
westliche Wissenschaftler las damals schon deutschsprachige Aquarienliebhaber-Zeitschriften aus der DDR?« Rehm hätte besser fragen
sollen, welcher westdeutsche Egelforscher diese Zeitschrift damals eigentlich nicht las oder doch zumindest kannte?
Aquarien Terrarien (AT) war nicht eine, sondern die populärwissenschaftliche Aquarienliebhaber-Zeitschrift der DDR, in der
auch viele namhafte Fachleute publizierten. Dies dokumentiert auch ihr Untertitel: »Monatszeitschrift für Vivarienkunde u. Zierfischzucht
(Kulturbund der DDR; Zentrale Kommission Vivaristik)«. Ihr fachliches Niveau war deutlich höher als das der thematisch vergleichbaren
westdeutschen Aquarien- und Terrarienzeitschrift (DATZ). AT wurde auch von vielen westdeutschen
Wissenschaftlern gelesen und war deshalb im Unterschied zur DATZ im Bestand diverser westdeutscher
Universitäts- und Naturkundemuseumsbibliotheken vorhanden. Nach der Wende wurde sie von der finanzstärkeren DATZ
übernommen und ›abgewickelt‹.
Der ambitionierte Egelforscher Kutschera war übrigens selbst ein engagierter Autor für Liebhaberzeitschriften.
In der DATZ hat er mindestens zwei Aufsätze veröffentlicht: »Der Gespornte Hornfrosch« (1974)
und »Aufzucht und Pflege des Zwerggürtelschweifes« (1976). Eine weiteren 1983 im Aquarienmagazin
mit dem Titel »Egel, die Vampire unter den Wassertieren«. Es ist also ganz unwahrscheinlich, dass der in der
Vivaristenszene aktive Kutschera die Zeitschrift AT nicht kannte.
LJ : »Pederzani machte Kutschera jedoch 1987 in einem Brief mit beigelegten
Reprint und einem Leserbrief in Mikrokosmos (76-95) auf seine Publikation in Aquarien Terrarien
aufmerksam. Darauf hin zitierte Kutschera Pederzani in mehreren seiner Publikationen. Allerdings
war und ist Kutschera der Ansicht, dass die Qualität des Pederzanischen Artikels nicht
ausreiche, um als Erstbeobachtung zu gelten. […]«
GM: Auch diese Darstellung ist nicht stimmig und wirft Fragen auf. Pederzani hatte bereits
1986 in der Fachzeitschrift »Mikrokosmos« einen Artikel mit dem Titel »Fundort
Aquarium: Ein Egel blieb jahrzehntelang inkognito« veröffentlicht. Der handelte zwar nicht von
der Brutfürsorge, aber in dessen Literaturliste hat er seinen 1980 in AT erschienenen Beitrag zitiert.
Auch Kutschera hat 1986 in Mikrokosmos publiziert. Da er damals davon überzeugt war, eine neue
europäische Egelart entdeckt zu haben, hätte ihn Pederzanis Artikel über in Aquarien
gefundene Importegel eigentlich brennend interessieren müssen. Es verwundert daher, dass Kutschera
Pederzanis Beobachtungen zur aktiven Jungenfütterung nicht schon (spätestens) 1986 kannte,
sondern erst 1987 als er von Pederzani brieflich darauf aufmerksam gemacht wurde.
Der österreichische Wissenschaftstheoretiker Gerhard Fröhlich wird in der aktuellen Ausgabe
des Laborjournals (7/2007) zur Evaluation von Forschung interviewt. Er berichtet über das
im »Big Science« zu beobachtende Phänomen der Kryptoamnesie: »Kryptoamnesien,
also unbewusste Plagiate – nach dem Vergessen der Quelle wird eine Idee als eigene erlebt – sind bei
Multifunktionären, wie sie Peer-Review-Geschäft üblich sind, unvermeidlich.« Ob dieses
Phänomen auch ein möglicher Erklärungsansatz für die Irritationen im vorliegenden Fall
(also eher im ›Little Science‹) ist, sei dahingestellt.
Rehm weist daraufhin, dass Kutschera nach 1987 Pederzanis Beobachtungen zur Brutfürsorge
in mehreren Publikationen zitiert hat. Dies trifft zwar zu, aber seltsamerweise hat Kutschera das
nicht sofort getan, sondern erst 2001 und 2004 mit fast 15-jähriger Verzögerung. Vorher hat er
es vermieden und zwar auch dann, wenn es inhaltlich angebracht war. Z. B. hat er Pederzani in seinem
Artikel »Reproductive Behaviour and Parental Care of the Leech Helobdella triserialis«
(Zoologischen Anzeiger 1992) mit keinem Wort erwähnt. Und dies obwohl Pederzani damals
der Auffassung war, dass er seine Beobachtungen zur aktiven Jungenfütterung an genau dieser Egelart
gemacht hatte. (Dass sich Pederzani in diesem Punkt irrte, zeigten definitiv erst 2004 durchgeführte
DNA-Sequenzanalysen.)
Kutschera bemerkt, dass die (wissenschaftliche) Qualität von Pederzanis Artikel nicht
ausreicht, um als Erstbeobachtung zu gelten. Natürlich gilt dies nicht für seine eigenen, in
Liebhaberzeitschriften publizierten Artikel. Selbstredend hat er sich nicht gescheut, sie in seine im
Internet veröffentlichte Publikationsliste aufzunehmen.
LJ : »Wem gebührt der Lorbeer der Erstbeobachtung? Laborjournal hat
die beiden Artikel zwei Fachmännern vorgelegt und sie um ihre Meinung gebeten. Beide seien gestandene
Verhaltensbiologen und Lehrstuhlinhaber.
Der erste schrieb:
›Generell halte ich es für problematisch, eine echte Urheberschaft von Entdeckungen von eher
allgemeiner Natur festzuschreiben. Wachsame Naturbeobachter sehen vieles und nicht selten zeitlich
früher als berufsmäßige Forscher.
Wer hat als erster entdeckt, dass der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt? Wer hat
als erster gesehen, dass Blutegel saugen? Wer hat als erster gesehen, dass bestimmte Blutegel
Brutpflege betreiben?
Herr Kutschera hat mit Sicherheit als erster dieses Verhalten gründlich untersucht,
solide dokumentiert und in einem Fachorgan publiziert. Dies ist das Zitat, das in Folgearbeiten
als Erstlingsentdeckung zitiert werden muss.
Es überrascht nicht, dass ein aufmerksamer Aquarianer diese nicht allzu schwierige
Beobachtung ebenfalls gemacht hat. In einem Aquarienheft-Beitrag, in dem die Haltung und
Leben von Blutegeln im Aquarium dargestellt werden, wird die Brutpflege folgerichtig
aufgeführt, aber nicht als besondere oder wichtige Entdeckung hervorgehoben. Im Gegensatz
dazu hat Herr Kutschera die Bedeutung dieser biologischen Tatsache als erster entsprechend
eingeordnet und gewürdigt.
Da diese Textstelle (sic!) von Herrn Pederzani aufgetaucht ist, wäre es nicht
falsch, diese zu erwähnen, aber nicht als wissenschaftliche Leistung, sondern als
anekdotische Beobachtung, die für sich genommen keine bemerkenswerte Leistung darstellt.
Hat man diese Egel im Aquarium, ist die Brutpflege nicht zu übersehen. Die wissenschaftliche
Leistung von Herrn Kutschera würde ich dadurch in keinster Weise geschmälert sehen .‹
Der zweite schrieb:
›Wie sie ja selbst gelesen haben, hat Pederzani beobachten können, dass ein Helobdella-Muttertier
eine Mückenlarve an die ihr angehefteten Jungegel ›weiterreichte‹. Er schloss hieraus auf
eine ›aktive Fütterung der Jungen
durch das Alttier‹, war sich aber der Tragweite seiner Beobachtungen nicht ganz sicher und stellte sie zur Diskussion.
Kutscheras Beobachtungen sind detaillierter und belegen durch die Beschreibung der
Farbveränderungen des Verdauungstrakts der Egel nach Ansaugen an eine roten Tubifex-Larve,
dass sich die Jungen tatsächlich von Beute ernähren, die das Elterntier gefangen hat.
Interessant ist hierbei bei beiden Autoren, dass die Eltern Nahrung weitergeben, ohne selbst
daran zu fressen, d. h. die Nahrungsaufnahme durch die Jungen ist kein Nebeneffekt des
Fressens des Elterntiers.
Pederzani zitiert Herter (1930), der schreibt ›…die Jungtiere beteiligen sich an den
Mahlzeiten…‹. Insofern wäre Herter der Erstbeschreiber dieses Verhaltens (obwohl
aus dem zitierten Fragment von Herters Arbeit nicht hervorgeht, inwieweit sich Jungen
an der Nahrung der Eltern gütlich tun oder gezielt von den Eltern versorgt werden),
Pederzani hat die Beobachtung konkretisiert, zögerte aber mit der Interpretation und
Kutschera hat durch die Beobachtung der Verfärbung die Nahrungsaufnahme nachgewiesen .‹ [...]«
GM: In beiden Stellungnahmen dokumentiert sich eine alte wissenschaftliche
Unsitte: Begutachtet wird zwar mit hoher Reputation, aber von anonymer Warte. Die Gutachter
werden namentlich nicht genannt und müssen sich daher für ihre Bewertungen auch nicht
verantworten. Diese Form der Begutachtung ist seit einiger Zeit wissenschaftsbetriebsintern
heftig in die Kritik geraten. Da in anonymen Gutachten völlig unklar bleibt, inwieweit sie
durch sachfremde Kumpanei oder Standesdünkel verzerrt sind, ist ihre Aussagekraft
naturgemäß von zweifelhaftem Wert. Von den Redakteuren eines investigativen Journals
hätte ich daher erwartet, dass sie auf Gutachter verzichten, die nicht die Zivilcourage
besitzen, für ihre Gutachten mit ihrem Namen einzustehen.
Erst jüngst berichtete die renommierte Universität Zürich in dem
Online-Beitrag »Glaube,
Liebe, Peer review« über die Mängel der Methode, die Qualität
von wissenschaftlichen Artikeln durch anonyme Fachkollegen bewerten zu lassen
(sogenanntes Peer review): »Peer review ist in der Forschung zwar sehr
verbreitet, stösst aber auch auf heftige Kritik. Teuer, langsam, voreingenommen,
einfach zu missbrauchen, schlecht im Aufdecken von Fehlern und Betrügereien, hochgradig
subjektiv, eine Art Lotterie: so lauten die schärfsten Angriffe auf das Verfahren.«
Rehm ist sich der Bedeutung von persönlichen Daten für die Einschätzung der
Stellungnahme eines Wissenschaftlers durchaus bewusst. Geht es um die Herabsetzung eines
Wissenschaftlers zögert er nicht, selbst persönlichste Daten zu publizieren. Im Kommentar
zu seinem Egelbericht erfahren wir von dem schöpfungsgeschichtlich motivierten
Evolutionstheoriekritiker Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig nicht nur wo er arbeitet,
sondern auch noch welcher Religionsgemeinschaft er angehört! Dagegen betrachtet er
es als offenbar legitim (oder doch zumindest vertretbar), dass bei den von ihm hinzugezogenen
Gutachtern schon der Name oder der Arbeitsplatz unter den Schutz der Persönlichkeitssphäre
fällt.
Trotz der genannten Vorbehalte kann man die zweite Stellungnahme noch als erträglich bezeichnen.
Die andere ist allerdings – gelinde formuliert – eine Zumutung! Der erste Gutachter kommentiert vom
hohen wissenschaftlichen Ross, hat keine Skrupel die Fakten zu verdrehen und ergreift unverhohlen
Partei für seinen Kollegen Kutschera. Es ist wahrlich nicht zuviel verlangt, wenn man
von einem staatlich finanzierten Lehrstuhlinhaber, der sich als Sachverständiger betätigt,
eine gewisse Neutralität bei der Würdigung von Sachverhalten erwartet. Dies ist aber
bei ersten Stellungnahme nicht der Fall. Ihr Autor disqualifiziert sich daher als Gutachter und
bestätigt stattdessen eindrucksvoll das Sprichwort, dass eine(universitäre) Krähe der
anderen kein Auge aushackt.
Gleich zu Beginn seiner Stellungnahme führt er den Leser auf Abwege. Er stellt fest,
dass »wachsame Naturbeobachter« vieles, »nicht selten zeitlich
früher als berufsmäßige Forscher sehen« und fragt suggestiv :
»Wer hat als erster entdeckt, dass der Kuckuck seine Eier in fremde Nester
legt? Wer hat als erster gesehen, dass Blutegel saugen? « Tatsächlich sind
dies hier völlig irrelevante Fragen, denn es handelt sich mit Sicherheit um Beobachtungen,
die von Laien gemacht wurden, als es noch gar keinen Wissenschaftsapparat gab. Bei der
Beobachtung der Brutfürsorge bei Egeln haben wir es aber mit der Entdeckung eines
völlig unerwarteten und unauffälligen Verhalten durch einen engagierten Vivaristen
zu tun, die erfolgte als es bereits seit über 200 Jahre einen funktionierenden
Wissenschaftsbetrieb gab.
Der erste Gutachter ist regelrecht davon besessen, Pederzanis Leistungen abzuwerten.
Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass er dabei übers Ziel hinausschießt und
auch Kutscheras Leistung herabwürdigt: So stuft er die von Pederzani
gemachten Beobachtungen zur aktiven Jungenfütterung bei Egeln als »nicht
allzu schwierig«, »keine bemerkenswerte oder gar wissenschaftliche
Leistung« und »anekdotisch« ein. Ferner schlussfolgert er:
»In einem Aquarienheft-Beitrag, in dem die Haltung und Leben von Blutegeln im
Aquarium dargestellt werden, wird die Brutpflege folgerichtig aufgeführt, aber nicht
als besondere oder wichtige Entdeckung hervorgehoben.« Seine absurde Argumentation
gipfelt in der Bemerkung: »Hat man diese Egel im Aquarium, ist die Brutpflege nicht
zu übersehen.«
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, diesen Unsinn richtig zu stellen! Erstens
fragt sich, wenn die Beobachtung der Brutfürsorge wirklich so trivial ist, wie zuvor
zitiert, warum stilisiert Kutschera sie dann in seinem MIZ-Artikel zu einer
großen wissenschaftlichen Entdeckung? Zweitens ist fraglich, ob dieser Gutachter
Pederzanis Beitrag überhaupt aufmerksam gelesen hat, denn es geht darin nicht
(wie dieser bemerkt) um »die Haltung und das Leben von Blutegeln in Aquarien«,
sondern um die Identifizierung von ungebetenen und bisher wenig beachteten Gästen
in Aquarien und der Beschreibung von deren Verhalten. Und drittens ist Pederzani
entgegen der Darstellung des Gutachters durchaus bewusst, dass er eine » besondere
oder wichtige Entdeckung« gemacht hat. Dies zeigt sein Resümee:
»Natürlich bin ich mir darüber im klaren, daß diese Darstellung
der Abläufe, die ja den Schluß enthält, es handele sich um eine aktive
Fütterung der Jungen durch das Alttier, auf Bedenken und Unglauben stoßen wird,
denn wenn ich nicht irre, würde es sich hier ja wohl um den einzigen Fütterungsvorgang
bei niederen Tieren handeln, staatenbildende Insekten ausgenommen. «Interessanterweise
findet sich sechs Jahre später bei Kutschera eine inhaltlich fast identische Passage:
»To our knowledge Helobdella striata and H. stagnalis art the first ›prearthropodian‹
species for which it has been shown that they collect food to present it to their offspring.«
Daraus kann man doch nur folgern, wenn Kutschera sich der Bedeutung seiner Erstentdeckung
der Brutfürsorge bei Egeln bewusst war, dann trifft das auch auf Pederzani zu – allerdings
mit dem kleinen Unterschied, dass Pederzani seine Beobachtungen sechs Jahre früher
publiziert hat.
Am Rande sei bemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, Egel im Aquarium am Leben zu halten und deren
Verhalten zu beobachten. Wenn dies der Fall wäre, hätten berufsmäßige Wissenschaftler
deren Brutfürsorge viel früher entdeckt und publiziert. Das dies nicht so ist, hängt auch
damit zusammen, dass Universitätsforscher bis Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend ›Spiritusforschung‹,
also Forschung am toten Objekt betrieben haben. Als sie dann auch das Verhalten ihrer konservierten
Objekte studieren wollten, mussten sie erst von der Vivaristen-Gemeinde lernen, wie man sie am
Leben erhält. Erst als sie das gelernt hatten, war es den Universitätswissenschaftlern
überhaupt möglich, Erkenntnisse nachzuvollziehen, die Aquarien- und Terrarienliebhaber
bereits viele Jahre zuvor gemacht hatten.
Angesichts der geschilderten Falschdarstellungen und -bewertungen verwundert es nicht, dass
der erste Gutachter zu dem (offenbar schon im Vorfeld feststehenden) Ergebnis kommt, dass in
Folgearbeiten nicht die »Textstelle von Herrn Pederzani«,
sondern Kutscheras Veröffentlichung »als Erstlingsentdeckung zitiert
werden muss«. Liest man aber die begrifflich als bloße »Textstelle«
abgewertete umfangreiche Passage (siehe Anlage), in
der Pederzani seine Beobachtungen beschreibt, unvereingenommen und betrachtet die
strittige Frage, wem der Lorbeer der Erstbeobachtung zusteht, mit dem gesunden Menschenverstand
und nicht mit der für den Wissenschaftsbetrieb eigentümlichen Arroganz, so kommt man
zu einem ganz anderen Ergebnis:
Pederzani hat – wenn auch eingeschränkt durch sein damaliges Equipment – zweifelsfrei
als erster beobachtet, dass Egel ihre Jungen aktiv füttern. (Dies ist im Übrigen auch
die persönliche, von den Gutachten nicht irritierte Einschätzung von Rehm).
Er hat ferner andere Beobachter hinzugezogen, um sicherzustellen, dass seine Beobachtungen nicht
durch eine übertriebene Entdeckerfreude verfälscht werden. Er hat seine Forschungsergebnisse
in einer Zeitschrift publiziert, die nicht nur von Aquarien- und Terrarienfreunden, sondern auch von vielen
Wissenschaftlern gelesen wird. Und zu guter Letzt hat er auch noch andere Egelforscher aufgefordert,
seine (auf den ersten Blick unglaublichen)
Ergebnisse zu prüfen.
Diese Vorgehensweise kann man doch wohl nur als Wissenschaft im besten Sinne bezeichnen. Selbst
aus Sicht eines zur Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit neigenden Wissenschaftsbetriebes
kann ich hier nur einen Makel erkennen, nämlich den, dass Pederzani die Beobachtungen
im eigenfinanzierten Wohnzimmer und nicht im staatlich subventionierten Labor gemacht hat. Man kann
daher die Feststellung des ersten Gutachters, dass Kutscheras vermeintliche Erstbeschreibung
der aktiven Brutfürsorge in »Folgearbeiten als Erstlingsentdeckung zitiert werden
muss« nur als borniert bezeichnen.
Der zweite Gutachter ergreift nicht gleich Partei, sondern beschreibt einigermaßen
unvoreingenommen, wie die Entdeckung der Brutfürsorge abgelaufen ist. Er erwähnt,
dass Pederzani Herter (1930) zitiert. Leider nicht, um
zu zeigen, dass Pederzani gewissenhaft recherchiert hat, ob es in der
Literatur Hinweise gibt, die seine außergewöhnlichen Beobachtungen stützen,
sondern um darüber zu spekulieren, ob nicht Herter aufgrund seiner Erwähnung
der Jungenfütterung als Erstbeschreiber zu gelten hätte. Er kommt zu dem Resümee,
dass Pederzani Herters Beobachtungen konkretisiert und Kutschera
die aktive Nahrungsaufnahme durch die Beobachtung der Verfärbung der Darmblindsäcke
nachgewiesen hat. Tatsächlich hat Kutschera sie aber nur durch ein zusätzliches
Indiz bestätigt, so dass Pederzani zweifelsfrei der Lorbeer für die Erstentdeckung
der Brutfürsorge bei Egeln zusteht.
LB : » Der zweite Vorwurf Mentings lautet: Kutschera habe
sich bei der Erstbeschreibung des Egels Helobdella europaea geirrt, bei diesem handele
es sich um die eingeschleppte H. triserialis.
Helobdella europaea
In der Tat sehen die beiden Egelspezies für Nichtspezialisten ähnlich aus. Sie unterscheiden
sich jedoch im Fressverhalten, das bei Egeln als taxonomischer Parameter gilt. Triserialis frisst
nur Schnecken, während Europaea auch Kaulquappen, Krebse, tote Fische et cetera verzehrt. H. europaea ist
also tatsächlich eine andere Art als H. triserialis. Das hat Kutschera inzwischen
auch durch mtDNA-Analyse nachgewiesen.«
GM: Hier ist Rehm ein
folgenschwerer Lapsus passiert: Er hat Kutschera von einem Vorwurf entlastet, den
ich gar nicht erhoben habe. Ich habe nicht behauptet, dass es sich bei dem von Kutschera
als H. europaea beschriebenen Egel um die bereits bekannte Art H. triserialis
(Blanchard 1849) handelt, sondern dass Kutschera aufgrund der ihm vorliegenden
Indizien und Hinweise hätte frühzeitig erkennen müssen, dass es sich bei der
von ihm entdeckten Helobdella-Art, um keine neue heimische, sondern um eine invasive
Art handelt. Von diesem Vorwurf hat das Laborjournal Kutschera somit nicht entlastet.
LJ : »Der amerikanische Egelexperte Mark Siddall hat Kutscheras
Analysen mit DNA-Barcoding bestätigt, des weiteren Bely und Weisblat
in Evolution & Development (2006, 8:491-501). Siddall glaubt, dass
H. europaea mit der 1943 von dem Argentinier Raul Ringuelet (1914-1982)
beschriebenen Art H. triserialis lineata identisch sei, doch basiert diese
Identifikation nur auf einem Schwarzweiß-Foto Ringuelets, und es gibt kein
Typenexemplar mehr, mit dem man eine DNA-Analyse durchführen könnte.
Die Identität von H. europaea mit Ringuelets Egel steht also nicht
zweifelsfrei fest und ist auch nicht mehr zweifelsfrei festzustellen. Sicher ist:
H. europaea und H. triserialis sind verschiedene Spezies. Zudem ist auch
für Siddall H. europaea die gültige Artbezeichnung, denn Ringuelets
Name Helobdella lineata war schon von einem nordamerikanischen Egel vorbesetzt.«
GM : Hier ist Rehms Darstellung und Bewertung zuzustimmen: H. europaea
und H. triserialis sind verschiedene Spezies und die Auffassung von Siddall,
dass H. europaea mit der H. triserialis lineata (Ringuelet 1943 ) identisch
ist, kann heute nicht mehr zweifelsfrei bewiesen werden. Es irritiert aber, dass Kutschera
die Frage einer möglichen Übereinstimmung der beiden vorgenannten Egelarten nicht schon
bei seiner Erstbeschreibung diskutiert hat. Drängt sich hier nicht der Verdacht auf,
dass Kutscheras vorschnelle Überzeugung, eine neue heimische Art entdeckt zu haben,
eine sorgfältige Recherche beeinträchtigt hat?
LJ : » H. europaea ist nicht in Europa heimisch, sondern wurde
vermutlich aus Südamerika eingeschleppt. Die Namensgebung ist also unglücklich aber
verzeihlich, denn Kutschera hat seine Typenexemplare wildlebend in einem Bach bei
Freiburg gefunden. Auch hat Kutschera bei der Neubenennung alle Vorsicht walten lassen.
So hat er sich an den Egelspezialisten Roy Sawyer gewendet und erst auf dessen Empfehlung
hin die Neubenennung vorgenommen.«
GM: Kutschera war Anfang der 1980er-Jahre (und da war wohl mehr der Ruhm
als die Indizienlage der Vater des Gedankens) der Auffassung, eine neue einheimische Helobdella-Art
gefunden zu haben. Er hat sie zunächst als H. striata (1985) und als sich herausstellte,
dass dieser Name präokkupiert ist zwei Jahre später als H. europaea beschrieben.
Dies war und ist eine wissenschaftliche Fehlleistung, denn statt einer neuen heimischen Art hatte
er einen weltweit invasiven Importegel bzw. eine neue Subspezies aus dem ursprünglich in
Südamerika beheimateten Helobdella-triserialis-Komplex entdeckt.
Kutschera hat später versucht, seine falsche Beschreibung von H. europaea als neue
heimische Art durch diverse Verwirrspiele zu verschleiern und erst sehr spät eingeräumt,
dass er sich geirrt haben könnte. Z. B. hat er in einem 2001 veröffentlichten Fachartikel,
seine ursprüngliche, weniger verfängliche (aber eben präokkupierte) Namensgebung
H. striata wieder reaktiviert. Erst 2004 hat er die Frage diskutiert, ob es sich
bei H. europaea um eine invasive Art aus Südamerika handelt. Tatsächlich
lagen ihm aber schon spätestens seit 1987 eine Reihe von gewichtigen Indizien und Hinweisen
vor, die für einen invasiven Importegel sprachen:
Erstens hatte man seit über 200 Jahren in Europa keinen neuen heimischen Egel der
Gattung Helobdella mehr entdeckt. Zweitens hatte Kutschera die Egel in einem
siedlungsnahen Gewässer gefunden. Drittens hatte ihn der englische Egelspezialist
Sawjer bereits 1984 darauf aufmerksam gemacht, dass ihm Hinweise auf einen nach
Europa importieren Egel vorliegen. Viertens hatte der Vivarist Pederzani 1986 in
der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Mikrokosmos über in Berliner Aquarien
gefundene morphologisch identische, invasive Egel berichtet. Und zu guter Letzt hat er ihn
auch noch persönlich angeschrieben und ihm einen Reprint des Artikels zugeschickt.
Nur Kutschera lagen alle damals genannten Hinweise auf einen Importegel vor. Trotzdem
hat er ihn in seinem 1987 erschienenen Artikel erneut als heimische Art beschrieben, was
sich bis heute in dem unglücklichen Epithet europaea dokumentiert. Kutschera
hat später versucht, sich damit rauszureden, dass sein Artikel von der Redaktion bereits
abgesegnet war, als ihn Pederzanis Brief erreichte. Aus dieser Rechtfertigung ergeben
sich einige Fragen:
Weshalb hat er den zwar abgesegneten, aber noch nicht gedruckten Artikel eigentlich nicht
korrigiert oder zurückgezogen? Und wenn dies nicht möglich war, warum hat er ihn
dann nicht zum nächst möglichen Zeitpunkt, also der nächsten Ausgabe korrigiert?
Und wie konnte es passieren, dass er Pederzanis 1986 in der Fachzeitschrift
Mikrokosmos veröffentlichten Artikel über in Berliner Aquarien gefundene,
morphologisch identische Importegel übersehn hat? – Eine Kutschera im übrigen
sehr gut bekannte Zeitschrift, da er im selben Jahr darin über seine vermeintliche
Entdeckung der aktiven Jungenfütterung publiziert hat. Der Leser möge sich selbst
ein Urteil darüber bilden, ob Kutschera bei seiner Neubenennung – wie von
Rehm behauptet – alle Vorsicht hat walten lassen und ob so sorgfältiges
wissenschaftliches Arbeiten aussieht.
LJ : » Pederzanis Egel war nicht H. triserialis, sondern
wahrscheinlich Kutscheras H. europaea, denn Pederzanis Egel
fraßen nur Mückenlarven und Triserialis frisst nur Schnecken. Pederzani
(beziehungsweise sein taxonomischer Gewährsmann Gerhard Hartwich vom Zoologischen
Museum Berlin) haben sich also geirrt. Im Aussehen sind Triserialis und Europaea
fast identisch, und die Taxonomie der Egel ist schwierig.«
GM : Die Taxonomie der Egel und insbesondere der zum Polymorphismus
neigenden H. triserialis-Arten ist in der Tat – und da ist Rehm
zuzustimmen – ein schwieriges Unterfangen. Es ist nicht einfach zu entscheiden, ob ein
abweichendes Merkmal (z. B. abweichende Nahrungspräferenzen) zum normalen Spektrum
einer Spezies gehört oder ausreicht, eine neue Subspezies zu beschreiben. Pederzani
vertrat damals die zuerst genannte Auffassung, Kutschera die letztere.
Aufgrund der jetzt vorliegenden DNA-Sequenzanalysen sieht es definitiv so aus,
dass Pederzani hier irrte und Kutschera Recht hatte. Bei
den von Kutschera in einem siedlungsnahen Gewässer und von
Pederzani in Berliner Aquarien gefundenen Egel handelte es sich
nicht um einen bereits beschriebenen, sondern um eine neue Subspezies
aus H. triserialis-Komplex. Pederzanis Irrtum darf aber
nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in einem entscheidenden
Punkt Recht behalten hat und der besagt, dass es sich bei dem Egel um
keine neue heimische, sondern um eine invasive, aufs engste mit H. triserialis
verwandte Art handelt.
An dieser Stelle noch ein paar Bemerkungen zu den bereits erwähnten
Verwirrspielen, mit denen Kutschera versucht, seine falsche
Beschreibung einer neuen Art (die er offenbar im Nachhinein als Blamage
findet) zu verschleiern. Studiert man z. B. Kutschera Publikationen
zum taxonomischen Status der von Pederzani gefundenen Egel so
stößt man auf widersprüchlichste Versionen.
Wenn es um die Entdeckung der Brutfürsorge geht, schreibt Kutschera,
dass Pederzani seine Beobachtungen an Helobdella-Spezies von
unbekannten taxonomischen Status gemacht:
»It should be noted that Pederzani (1980) mentioned similar observations
carried out on several specimens of unknown taxonomic status. This enigmatic leech,
which is very similar to H. striata (sic!), was introduced from South America via
aquatic plants into several warm-water aquaria in Berlin (Germany)«
(Kutschera & Wirtz 2001).
Wenn es aber um den Artstatus von Helobdella europaea geht, dann schreibt
Kutschera, dass Pederzanis in Berliner Aquarien gefundenen Egel mit
seinen identisch sind:
»Pederzani (1980) reported that a glossiphonid leech that resembles the
American warm-water species H. triserialis, later identified by Kutschera
as H. europaea, occurred in aquaria in Berlin« (Pfeiffer, Brenig & Kutschera 2004).
Dieses Verwirrspiel erreicht seinen Gipfel in Kutscheras im Newsticker der
AG Evolutionsbiologie veröffentlichten Gegendarstellung »Der Kassler
›Lügenprofessor ‹« zu meinem Artikel »Von Egeln und
Engeln«. Hier stellt er fest:
»Entgegen Mentings Spekulation lag keine ausreichende Evidenz vor, dass die von mir
beschriebene Egelspezies mit Pederzanis ›Aquarien-Importegel‹ H. triserialis
übereinstimmte. Diese Frage konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden« (2007).
Damit haben wir drei Versionen: Erstens, der taxonomische Status von Pederzanis Egeln
ist unbekannt. Zweitens, Pederzanis Egel konnten von Kutschera als H. europaea
identifiziert werden. Und drittens, die Frage der Übereinstimmung konnte bis heute nicht
eindeutig geklärt werden. Es ist übrigens nicht auszuschließen, dass die Versionen
nicht zufällig, sondern intentional gewählt werden. Wenn es darum geht, wer die
Brutfürsorge als erster entdeckt hat, wäre es für Kutschera von Vorteil,
wenn nicht einmal der taxonomische Status von Pederzanis Egeln bekannt ist. Wenn es aber
darum geht, ob H. europaea eine neue Art ist, schadet es nicht, wenn sie identisch mit Egeln
ist, die andernorts also z. B. in Berliner Aquarien gefunden wurden, zumal H. europaea seit
einigen Jahren an ihrem ›locus typicus‹ (ein Gewässer in der Nähe von Freiburg)
verschwunden ist. Und wenn es – wie in Kutscheras Gegendarstellung – um beides geht, ist die
Frage eben noch ungeklärt!
Ich überlasse es dem Leser, sich hier selbst ein Urteil darüber zu bilden, was von
solcher Art ›wissenschaftlicher‹ Verwirrspielen zu halten ist.
LJ : »Die Gepflogenheiten in der Egelforschung sind übrigens hart,
nicht nur zwischen Forschern und Laien, sondern auch unter den Forschern selbst. So hatte Kutschera
2006 in der Zeitschrift Lauterbornia (56:1-4) die bemerkenswerte Erkenntnis veröffentlicht,
dass es sich bei den heutzutage als medizinische Blutegel Hirudo medicinalis L. verkauften Egeln
in Wirklichkeit oft um Hirudo verbana handelt, eine Egelspezies, die 1820 von H. Carena im
Lago Maggiore entdeckt worden war. Verbana und Medicinalis galten lange als Varietäten
derselben Art.«
Kutschera konnte aber zeigen, dass die beiden Egel sich selbst bei gemeinsamer Aufzucht
getrennt fortpflanzen und keine Zwischenformen auftreten. Nach gängiger Definition handelt es
sich also um zwei verschiedene Biospezies. Ein Jahr später erschien ein Artikel
von Mark Siddall et al. (Proc Biol Sci 2007, 274 (1617):1481-7) mit dem Titel
›Diverse molecular data demonstrate that commercially available medicinal Leeches are not
Hirudo medicinales ‹, der im wesentlichen das gleiche verkündete wie Kutschera,
allerdings gestützt auf DNA-Sequenzen und nicht auf Verhaltensbeobachtungen.
Siddalls Erkenntnisse brachten es in fast jede Zeitung, von Kutschera redete
kaum einer. Siddall et al. hatten zwar das Kutschera-Paper zitiert, seine
Ergebnisse jedoch als bloße ›Vermutung‹ abgewertet. Kutschera wird nächstens
mit einem Kurzbeitrag in Nature die Sachlage klarstellen.«
GM: Zweifelsfrei erreicht der Laborjournal-Artikel in dieser abschließenden
Passage seine größte Schräglage. Rehm konstatiert, dass die
Gepflogenheiten in der Egelforschung hart sind. Man sollte hinzufügen, dass sie allgemein
im Wissenschaftsbetrieb hart sind, wenn es um strittige Sachfragen geht, die eng mit Karrierefragen
verbunden sind. Und dass dies so ist, hängt wesentlich mit so karrierebewussten
Forscherpersönlichkeiten wie Kutschera zusammen.
Der kennt – wie ich schon wiederholt zeigen konnte – wenn es um seinen Vorteil geht, wenig Skrupel
um Kontrahenten ins wissenschaftliche oder weltanschauliche Abseits zu drängen. Mich hat er
z. B. in seinem Buch »Streitpunkt Evolution« durch eine entstellende Verkürzung
des tatsächlichen Sachverhaltes einer kreationistisch motivierten »Infiltration von
Fachzeitschriften« bezichtigt. Ferner hat er in seiner Gegendarstellung »Der Kasseler
›Lügenprofessor‹« die Tatsachenbehauptung verbreitet, dass ich an keiner deutschen
Universität eine biologische Zwischenprüfung bestehen würde. Er unterschlägt dabei
dem geneigten Leser, dass ich Botanik (inklusive Laborpraktika) im Nebenfach studiert habe und dieses
Studium mit einer Nebenfach-Diplomprüfung abgeschlossen habe.
Es schlägt dem Fass daher den Boden aus, wenn Rehm Kutschera am Ende seines
Berichtes auch noch reichlich Platz dafür einräumt, sich als Opfer eines anderen
Egelforschers zu stilisieren, der angeblich mit seinen »bemerkenswerten Erkenntnissen«
hausieren geht.
Rehm wirft mir mangelndes Expertentum in Egelfragen vor. Dies mag zwar zutreffen, denn um
den Artikel »Von Egeln und Engeln« zu schreiben, brauchte ich die einschlägige
Literatur nur systematisch auszuwerten und einige Egelexperten befragen, aber eben keine eigene
Egelforschung betreiben. Wäre es um die strittige Erstbeschreibung einer neuen Fischotterart
gegangen, hätte meine Geschichte daher statt »Von Egeln und Engeln«
auch »Von Ottern und Göttern« handeln können – und zwar ohne ein
ausgewiesener Fischotterexperte zu sein.
H. medicinalis / H. verbana
Wie steht es aber um das Expertentum des Redakteurs Rehm? Hat er den Artikel, in
dem Kutschera die Ergebnisse seiner Kreuzungsexperimente zwischen Hirudo medicinalis
und H. verbana dokumentiert eigentlich gelesen? Ich befürchte nicht. Und hat er
vertiefende Literatur zu den von Kutschera für sich reklamierten Erkenntnissen
studiert oder gar Experten befragt, ob die Experimente aussagekräftig sind? Ich
befürchte, Rehm müsste auch diese Frage mit ›nein‹ beantworten.
Um eine tragfähige Einschätzung zu der Frage zu bekommen, ob sich Kutschera
hier zurecht als Opfer stilisiert, müsste ich mich erneut in die einschlägige
Literatur zu einer sehr speziellen Thematik einarbeiten. Sollte ich dabei herausfinden,
dass Kutscheras Version der Geschichte diesmal zutrifft, würde das niemand
sonderlich interessieren. Käme ich allerdings zu dem Ergebnis, dass Kutschera
sich hier wieder einmal zu unrecht als Opfer stilisiert, würde mein Urteil weithin
nur als unqualifizierte und böswillige Fortsetzung meiner (sogenannten) ›Hetzkampagne‹
gegen den Kutschera oder sein Club abgewertet.
Mein Urteil ist hier also weder gefragt noch angesagt. Deshalb bin ich froh, in der
Rubrik »Forumbeiträge«
eine Stellungnahme des renommierten Egelexperten Clemens Grosser* (Leipzig)
zu dem Laborjournal-Artikel »Angriff auf einen Evolutionsbiologen«
vorlegen zu können. Darin werden auch Kutscheras Kreuzungsexperimente und ihre
fachliche Bedeutung auf den Prüfstand gestellt.
Literatur
siehe Beitrag von »VonEgeln und Engeln«
Anmerkung
* Clemens Grosser ist ausgebildeter Gymnasiallehrer und derzeit Schulleiter
von mehreren Fachoberschulen in Leipzig. Er beschäftigt sich seit 1985 intensiv mit der
Faunistik und Biologie von Egeln und hat zwischenzeitlich ca. 30 Fachartikel zu der Thematik
publiziert. Grosser betreibt eine eigene Website über Egel
(www.hirudinea.de). In ihr dokumentiert
er u. a. die derzeit nachgewiesenen Egeltaxa verschiedener Regionen und informiert
über aktuelle Ergebnisse der Egelforschung. In Sachen Egelfragen ist er ein kompetenter
Ansprechpartner: Er leitet Bestimmungskurse für Egel, ist Ratgeber für Bundes- und
Landesbehörden (Umsetzung der FFH-Richtlinie, Erstellung von ›Rote Listen‹ für Egel)
und berät Blutegelzüchter. Auch der ambitionierte Egelforscher U. Kutschera
sucht bei kniffeligen Problemen immer wieder den Rat von Grosser.
Anlage
Entdeckung und Beschreibung der aktiven Jungenfütterung bei Egeln durch H. A. Pederzani:
»Die heranwachsenden jungen Egel üben, mit den hinteren Saugnäpfen am Bauch
des Muttertieres angeheftet, oft Suchbewegungen aus (Bild 9), manchmal gleichzeitig mit der
Mutter. Stößt diese nun gegen ein schwebendes Futtertier, z. B. gegen eine Weiße
Mückenlarve, so wird das Beutetier mit dem vorderen Körperdrittel, das ausgestreckt ja
weit länger geworden ist als in Ruhe, blitzschnell umrollt und herangezogen. Dies geschieht
mit außerordentlicher Kraft, und die energischen Zuckbewegungen der Larven führen nur
selten zu ihrer Befreiung. Nun wird der Rüssel aus der Mundöffnung ausgefahren. Nach wenigen
Sekunden zeigt die Larve kein Lebenszeichen mehr. Einige Minuten später läßt der Egel
die ausgesogene Haut der Mückenlarve zu Boden fallen. […]
Nun wollen ja auch die Jungen zu ihrem Recht kommen. Sie sind vom gefangenen Beutetier nicht weit
entfernt. Herter (1968) schreibt: ›…Die Jungen beteiligen sich an den Mahlzeiten….‹
Im Bewusstsein der Gefahr einer Fehldeutung möchte ich nun schildern, wie sich
mir (und mehreren herbeigerufenen weiteren Beobachtern) dieser Vorgang leicht variiert mehrfach
darstellte:
Ein Muttertier fing eine Mückenlarve, wartete bis sie bewegungsunfähig war und reichte
sie dann zu den Jungegeln hinunter, die die Beute sofort übernahmen und zu saugen begannen.
Inzwischen fing die Mutter eine weitere Larve, ließ sie aber getötet fallen, als sie
auch diese den Jungtieren zuführen wollte, die aber noch mit der ersten Larve beschäftigt
waren. Daraufhin nahm die ›Mutter‹ den Jungtieren die Larve ab, drehte sie wie prüfend und reichte
sie dann zurück. Dies wiederholte sie manchmal mehrfach. Schließlich, wenn die Larve nur
noch aus Haut zu bestehen schien, ließ das Muttertier sie zu Boden fallen.
In zwei Fällen wurde eine Larve, an der Jungtiere saugten, durch einen anderen Egel der
gleichen Art, der mit seinen Suchbewegungen nahe war, geraubt. Daraufhin griff das Muttertier
hinüber, brachte die Larve an sich und gab sie den Jungen zurück.
Natürlich bin ich mir darüber im klaren, daß diese Darstellung der Abläufe,
die ja den Schluß enthält, es handele sich um eine aktive Fütterung der Jungen
durch das Alttier, auf Bedenken und Unglauben stoßen wird, denn wenn ich nicht irre, würde
es sich hier ja wohl um den einzigen Fütterungsvorgang bei niederen Tieren handeln,
staatenbildende Insekten ausgenommen. Ich glaube aber berechtigt zu sein, diese Beobachtungen
zwecks Überprüfung zur Diskussion zu stellen.
Ein Fachwissenschaftler wäre wohl vor Veröffentlichung zu Versuchsreihen und filmischen
Beleg verpflichtet (wohl nur mit Infrarot-Material möglich, da die Egel lichtscheu
sind), als interessierter Laie glaube ich aber, das Recht zu haben, auch ohne diese Prämissen
andere zu weiterer Beobachtung anzuregen. Gelänge dies, so wäre der Zweck dieses Beitrages
erfüllt.«
aus: H. A. Pederzani
(1980): Ungebetene Gäste in unseren Aquarien. Hirudineen – aber welche? – In: Aquarien Terrarien, Heft 11
G.M., 14.07.07
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Prof. Dr. U. Kutschera, gelernter Pflanzenphysiologe, publikationsfreudiger
Evolutionsbiologe, unerbittlicher Kämpfer gegen den Kreationismus
u. ambitionierter Egelforscher, glaubt an nichts mehr als Naturgesetze und Tatsachen
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Kutschera eröffnet eine neue Front im Kampf gegen den Kreationismus
Der Vorsitzende der AG Evolutionsbiologie Ulrich Kutschera verdankt einen Großteil
seiner Publizität seinem brachialem Feldzug gegen den Kreationismus. Jetzt hat er neue Front
eröffnet, weil er meint, pseudowissenschaftliche Aktivitäten dort entdeckt zu haben, wo
man sie am wenigsten vermutet, nämlich in den eigenen Reihen. Er mahnt Geisteswissenschaftler
ab, die sich »in die inneren Angelegenheiten und Fragestellungen« der
Naturwissenschaften einmischen1). Dies sei inakzeptabel, weil sie sich damit
»immer wieder über jene Personen erheben wollen, die unter Einsatz enormer
persönlicher und technischer Aufwendungen reale Phänomene der Natur erforschen
«. Kutschera stützt seine Attacke auf ein Wissenschaftsverständnis,
das eher primitiv und trivial als reflektiert und differenziert zu bezeichnen ist.
Er will zwischen den Geisteswissenschaften, die er »Verbalwissenschaften«
nennt und den Naturwissenschaften, die für ihn »Realwissenschaften« sind,
einen qualitativ gravierenden Unterschied erkannt haben: Auf der »Primär- und
Sekundärliteratur«, die von den »Realwissenschaften« hervorgebracht
würde, baue »letztendlich unser gesamter verlässlicher, technologisch verwertbarer
Wissensschatz« auf. Demgegenüber käme der »von manchen
Geisteswissenschaftlern produzierten meist in Buchform verbreiteten Tertiärliteratur«
bei weitem nicht dieselbe Bedeutung zu, da sie sich »bevorzugt damit beschäftigen, das,
was andere über reale Sachverhalte gedacht haben, gegeneinander abzuwägen, neu auszulegen
und zu kommentieren«.
Nach den Kreationisten zerrt Kutschera nun die Geisteswissenschaftler vor den Richterstuhl
seiner eigenen Disziplin der Biologie. Er wirft ihnen vor, nichts Substanzielles zum
wissenschaftlich-technologischen Fortschritt beizutragen und stattdessen eine Art
wiederkäuendes bis wortakrobatisches Privatvergnügen zu betreiben. Den
vielzitierten und weithin überbewerteten Satz »Nichts in der Biologie
ergibt einen Sinn außer im Lichte der Evolution« des Evolutionsbiologen
Theodosius Dobzhansky noch weiter aufblähend, versteigt er sich zu der
hanebüchenen Äußerung: »Nichts in den Geisteswissenschaften
ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie«. Dabei war der Anlass
für diese Abstrafung vergleichsweise gering. Der Medizinhistoriker Florian
Mildenberger hatte im Laborjournal die These vertreten, dass in den 1930er
Jahren Neovitalisten den Darwinisten wichtige Anstöße gegeben hätten, um
die unter innerwissenschaftlichen Beschuss geratenen Theoriemodelle Charles Darwins
weiterzuentwickeln. Ähnlich hätte das Erstarken religiös motivierter
Evolutionskritiker in den 1980er Jahren die Evolutionstheoretiker zu verstärkten Anstrengungen
veranlasst, bestehende Forschungslücken zu schließen. Kutschera, der
gebeten worden war, dies zu kommentieren, stufte beide Thesen als kompletten Unsinn ein.
Der Erkenntnisfortschritt sei durch religiöse oder vitalistische Glaubensbekenntnisse
nicht befördert, sondern vielmehr behindert worden.
Kutschera sieht die tiefere Ursache für Mildenbergers geistige Verirrungen
in einer eklatanten Schwäche der »Ghost Scientists«. Diese tendierten
dazu, nicht nur reale Wirkfaktoren, sondern auch »subjektive, übernatürliche
Glaubensinhalte in die naturwissenschaftliche Theoriebildung aufzunehmen«, weil sie
beide als »Geistesprodukte des Homo sapiens« betrachteten. Da
Geisteswissenschaftler »nicht dem Zwang einer experimentellen Verifizierung ihrer
Thesen unterliegen« würden, seien »imaginäre (biblische) Götter
und Designer« für sie »gedanklich gleichwertig mit dem eines Butterbrotes
oder Straßenbesens - jedenfalls solange sie am Schreibtisch sitzen«2).
»Verbalwissenschaftler«,die nicht begriffen hätten, dass in
den »Realwissenschaften nur Dinge relevant sind, die sich mit unseren naturwissenschaftlichen
Methodenarsenal nachweisen lassen«, sollten deshalb die Finger von ›realwissenschaftlichen‹
Themen lassen. Eine Generalabsolution erteilt Kutschera nur einigen Biologiehistorikern:
»Die führenden Vertreter dieses Faches der Humanities (Thomas Junker, Uwe Hoßfeld,
Olaf Breidbach, Ekkehard Höxtermann usw.) haben ein naturwissenschaftliches Studium absolviert
und somit unsere Denk- und Arbeitsweise im Rahmen aufwändiger Laborpraktika kennen gelernt.
« Selbstverständlich sind alle namentlich angeführten Biologiehistoriker
Mitglieder der AG Evolutionsbiologie oder sie stammen wie Höxtermann aus dem näheren
Umfeld des ›Kutschera-Clubs‹.3)
Kutschera eilte bereits vor seinem Frontalangriff auf die Geisteswissenschaft der Ruf
voraus, eine vorsintflutliche Erkenntnistheorie zu verbreiten. So versuchte er,
schöpfungsgeschichtlich motivierte Evolutionskritiker mit der Argumentation ins Abseits
zu befördern, dass sich die Biologie nur mit »real existierenden Dingen«
beschäftigt und deswegen »irreale Götter und Designer draußen
bleiben müssten«. Tatsächlich beschäftigen sich aber weder die
Biologie noch andere Wissenschaften mit real existierenden Dingen. Die Vorstellung einer
gegenständlich fassbaren Welt entstammt der Alltagssprache und nur dort macht sie
Sinn. Bei oberflächlicher Betrachtung mögen zwar viele Objekte der Naturwissenschaften
als dinglich real erscheinen. Bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich aber immer als
epistemische, d. h. konstruierte Objekte4). Jeder moderne Wissenschaftstheoretiker
wäre daher bereit zuzugeben, dass in allem Wissen auch immer Glauben ist, d. h. alles
Wissen (und damit auch der Gegenstand, über den es handelt) ist theorieinfiziert. Die
Bruchstelle zwischen wissenschaftlichem Naturalismus und kreationistischem Supranaturalismus
verläuft daher nicht zwischen der Realität und Irrealität ihrer Gegenstände,
sondern ist methodisch durch die bewusste Beschränkung der naturwissenschaftlichen
Forschung auf ›objektiv‹ erfahrbare Ursachen und die Ausklammerung transzendenter
Deutungen definiert.
Kutschera führt als Beispiel für reale Dinge »Lebensgemeinschaften
im tropischen Regenwald« an. Er scheint offenbar zu glauben, dass Lebensgemeinschaften
wie ›Ostereier im Nest‹ herumliegen und nur gefunden werden müssen. Tatsächlich sind
sie aber ein höchst fragwürdiger Term, der nur für Primitivrealisten5)
wie Kutschera als reales Ding gehandelt wird. Bedeutung hat er vor allem in
Kinderschulbüchern und in der Heimatkunde, weil er die Herzen der Kinder und Heimatfreunde
höher schlagen lässt! Für einen Fachwissenschaftler sind Lebensgemeinschaften
eher Phantom als Realität, weil sie ein höchstes perspektivisches Gebilde sind.
Dass Kutschera das nicht begreift, erstaunt auch deshalb, weil ihm selbst schon mal
ein »reales Objekt« dekonstruiert worden ist. Jahrelang hatte er sich
damit gerühmt, einen neuen, bisher unbekannten heimischen Egel entdeckt zu haben.
Schließlich musste er einräumen, was kritischere Egelforscher schon sofort vermutet
hatten, dass es sich um eine invasive Variante eines zum Polymorphismus neigenden, hinlänglich
bekannten Neuwelt-Egel handelt. Doch damit nicht genug der Dekonstruktion, nur wenige Jahre nach ihrer
Entdeckung konnte die betreffende Egelpopulation an ihrem locus typicus nicht mehr nachgewiesen
werden. Der ausgewiesene ›Realwissenschaftler‹ Kutschera
wird sich doch wohl nicht die ganze Zeit mit einem Egelphantom, also einem eher irrealen Objekt
beschäftigt haben?
Mit seiner jüngsten Attacke gegen die Geisteswissenschaften knüpft Kutschera
nahtlos an bisherige Tiefpunkte seines Wissenschaftsverständnis an. Vermutlich seine eigene
Ausbildung als Pflanzenphysiologie idealisierend und verabsolutierend, behauptet er, dass man
nur im »Rahmen aufwändiger Laborpraktika« lernen kann, die
»Denk- und Arbeitsweise« von Naturwissenschaftlern, d. h. ›richtigen‹
Wissenschaftlern zu verstehen. Dahinter steht wohl die Vorstellung, dass sich quasi im
Laborexperiment entscheide, was in dieser Welt real und irreal ist6). Dies erstaunt,
denn üblicherweise gilt die Laborwelt als eine höchst artifizielle Welt voller ungewisser
Annahmen und Fehlerquellen. Wo immer es möglich ist, versucht daher ein Wissenschaftler, seine
im Labor erzielten Ergebnisse unter möglichst realen Bedingungen zu testen. Die Ergebnisse eines
Laborexperimentes sprechen auch nicht – wie Kutschera zu glauben scheint – aus sich selbst
heraus, sondern müssen verbalisiert werden, um entscheiden zu können, ob eine Theorie
eher wahr oder falsch ist. Um sich von Geisteswissenschaftlern abzuheben, bezeichnet sich Kutschera
gerne als Labor-Biologen. Aber welchen Teil seiner Arbeitszeit verbringt er tatsächlich
im Labor? Schuften in den Laboren nicht meistens nur die Subalternen, d. h. die Hiwis, Docs
oder Postdocs und nur ganz selten Professoren? Zweifellos wird auch der Labor-Biologe Kutschera
die weitaus meiste Zeit mit dem Studium und ›Verwursteln‹ von Primär-,
Sekundär- oder Tertiärliteratur verbringen, d. h. genauso arbeiten, wie dies
die von ihm heftig attackierten ›Verbalwissenschaftler‹ tun.
Anmerkungen
1) Kutschera ist zwar bemüht, populistisch zu agieren, vergreift sich aber
regelmäßig im Ton. Hier gleicht seine Diktion, mit der er die Geisteswissenschaftler
rügt, auf unappetitliche Weise dem Stil von Protestnoten, mit denen sich Diktaturen verbitten,
von Demokratien in Menschenrechtsfragen belehrt zu werden.
2) Hier will Kutschera wohl andeuten, dass die aus seiner Sicht jenseits
experimenteller Zwänge abgehoben und frei fabulierenden ›Verbalwissenschaftler‹
es nicht vermeiden können, in ihrem Alltagsleben mit den Niederungen ›der Realität‹
konfrontiert zu werden – zum Beispiel wenn sie erfahren müssen, dass nicht die Vorstellung
eines Festmahls, sondern nur ein richtiges Butterbrot den Hunger stillt. Tatsächlich zeigt
Kutschera uns hier nur, wie eng seine Erkenntnistheorie der Alltagswelt verbunden ist.
3) Normalerweise wird auf der Website der AG Evolutionsbiologie über jede
Attacke Kutscheras gegen Kritiker der Evolutionstheorie dezidiert berichtet.
Daher erstaunt, dass sein aktueller Frontalangriff – trotz der großzügigen
Nichtbetroffenheitsregelungen für AG-zugeneigte Biologiehistoriker – bisher
verschwiegen wird. Offenbar verspricht sich die Führungsriege der AG von einer
Ausweitung der Diskussion über den substanziellen Nährwert ›verbalwissenschaftlicher‹
Forschung keinen Vorteil. Zurecht, wie der Artikel
»Angriff auf den ›Verbalwissenschaftler‹« von Alexander Kissler
in der Süddeutschen Zeitung zeigt, in dem der Fehdehandschuh, den Kutschera den
Geisteswissenschaftlern vor die Füße wirft, auf spöttische Weise und zum
Schaden des öffentlichen Ansehens von Evolutionsbiologen aufgenommen wird.
4) Dass auch Fossilien, die auf den ersten Blick eher dinglich real als
konstruiert erscheinen, epistemische Objekte sind, zeigen z. B. Panzerfischfossilien
aus dem Erdaltertum (Paläozoikum). Bis vor kurzem war man fest davon überzeugt,
dass sich Panzerfische eierlegend vermehren, weil eindeutige Belege für Lebendgeburten
erst 200 Millionen Jahre später für das Erdmittelalter (Mesozoikum) vorlagen.
Da man aber Panzerfischfossilien kannte, die juvenile Exemplare in ihrem Innern zeigten,
vermutete man, dass Panzerfische Kannibalen sind, die ihre eigenen Jungen fressen. Diese
Interpretation wurde aufgrund des hohen Alters der Panzerfischfossilien für sicher
gehalten. Sie wurde erst in Frage gestellt, als man ein Panzerfischfossil fand, das einen
versteinerten Embryo in seinem Innern zeigte, der noch über eine Nabelschnur mit einem
Dottersack verbunden war. Jetzt wurden auch die alten Fossilien umgehend reinterpretiert
und der Panzerfisch als lebendgebärend und nichtkannibalisierend rehabilitiert. Dies
ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass selbst ein so gegenständlich
oder dinglich wirkendes Objekt wie ein Fossil stark konstruiert und theorieinfiziert ist.
5) Auch in meiner eigenen Disziplin der Geographie gibt es einen ausgeprägten
Hang zum Primitivrealismus. Ein eindruckvolles Beispiel befindet sich auf der Website der
Fachgruppe Geowissenschaften an der Universität Basel. Dort werden in einem
Essay Studenten darüber informiert, was Geographen eigentlich tun. In einer Passage, die
in ihrer naiven Ahnungslosigkeit Kutscheras Wissenschaftsverständnis nicht
nachsteht, heißt es: »Der Gegenstand der Geographie ist die Erde. Eine
Theorie hat immer Phänomene und Gegenstände als Grundlage, die in der Wirklichkeit
existieren und an der Realität geprüft werden müssen,
sofern sie als gesichert gelten sollen.« Dies mag vielleicht die praktische
Vorgehensweise eines gewieften Gauners illustrieren, der auf eine Münze (»Gegenstand«)
beißt, um ihre Echtheit (»Realität«) zu prüfen, ist
aber völlig untauglich, eine Disziplin erkenntnistheoretisch zu fundieren.
6) Die mit dem Begriff »Makroevolution« bezeichnete Entstehung
neuer Baupläne und Funktionen gilt zwar aufgrund der zahlreichen Indizien aus der
paläontologischen Überlieferung als gesichert, konnte aber trotz unzähliger
›realwissenschaftlicher‹ Versuche bisher nicht einmal ansatzweise im Laborexperiment
reproduziert werden. Folgt man Kutscheras Labordoktrin für ›richtige‹
Naturwissenschaft sind Theorien über Makroevolution keine ›Realwissenschaft‹,
sondern ›verbalwissenschaftliche‹ Spekulation. Damit befördert Kutschera
einen fundamentalen Eckpfeiler der Evolutionstheorie in den Bereich metaphysischer oder
naturphilosophischer Betrachtung. Dort stehen makroevolutive Erklärungsmodelle dann
ziemlich einsam, d. h. ohne ›realwissenschaftliche‹ Rückendeckung in Konkurrenz
zu schöpfungsgeschichtlich motivierten Ursprungs-Modellen.
Literatur
Kutschera, Ulrich (2008): Lobenswerte Bemühungen. – In: Laborjournal 15/6, 32-33
Mildenberger, Florian (2008): Steter Stachel fördert die Evolution. – In: Laborjournal 15/6, 30-31
G.M., 16.08.08
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»Gefräßige Stille« im Lesesaal einer Universitätsbibliothek:
Folgt man Kutscheras realwissenschaftlicher Labordoktrin sehen wir hier
eine Herde Primär- und Sekundärliteratur wiederkäuender Verbalwissenschaftler
bei der Produktion von Tertiärliteratur.
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›Hier fällt Darwin durch – Du nicht!‹ – Einige Bemerkungen zum Artikel »Elite-Student Hahnemann
und der unwissende Darwin« von Ulrich Kutschera, Laborjournal 10/2008
Kutschera versucht derzeit die Welt zu beglücken, indem er seinen Gesinnungsfeldzug gegen den Kreationismus auf weitere,
aus seiner Sicht »pseudowissenschaftliche Aktivitäten« ausdehnt. Erst jüngst hatte ein vergleichsweise harmloser Artikel
zur Geschichte der Evolutionstheorie ihn so provoziert, dass er sich genötigt sah, die geisteswissenschaftlichen Disziplinen
insgesamt vor den Richterstuhl seiner eigenen Disziplin, der Evolutionsbiologie, zu zerren. Diesmal hat es die Homöopathie
erwischt, die er in seinem jüngsten Laborjournalartikel als »quasi-religiöse Pseudowissenschaft« verteufelt. Seine stereotype
Anklage lautet: Eine Disziplin oder Methode, die keine Bestätigung in Laborexperimenten oder Feldstudien findet und sich nicht
wie die Evolutionsbiologie beständig fortentwickelt, kann nur eine volksgefährdende Scharlatanerie sein. Bleibt die Frage, was
einen Evolutionsbiologen, der sich schon als brachial agierender Kreationistenjäger einen fragwürdigen Ruf erworben hat, veranlasst,
gegen eine vergleichsweise harmlose Naturheilmethode vorzugehen? Einleitend zu seinem Laborjournalartikel heißt es
dazu: »In unzähligen Zuschriften mit dem Tenor ›Ich bin gegen die Kreationisten, glaube aber an die Homöopathie‹ musste sich
der Evolutionsbiologe und Physiologe Ulrich Kutschera immer wieder mit den Hahnemannschen Dogmen auseinandersetzen.«1)
Die Existenz »unzähliger« Zuschriften solchen Inhalts scheint mir zweifelhaft. Noch zweifelhafter scheint mir, dass die Leute
explizite geschrieben hätten, sie würden an Homöopathie »glauben«. Dies legt auch das Ergebnis einer (sicherlich nicht
repräsentativen) Befragung in meinem Bekanntenkreis nahe. Diejenigen, die der Homöopathie nicht indifferent oder ablehnend
gegenüberstanden, »glaubten« nicht an sie (oder gar an die »Hahnemannschen Dogmen«), sondern hatten in bestimmten Fällen ganz
gute Erfahrungen mit deren Heilmethoden gemacht. Ein typisches Beispiel sind häufig auftretende Ohrentzündungen bei Kindern.
Hier werden homöopathische Arzneien (oder auch naturheilkundliche Hausmittel) eingesetzt, um sich den lästigen Weg zum Kinderarzt
zu ersparen, zumal diese dazu neigen, die Kinder mit Antibiotika vollzupumpen. Im Fall, dass diese Mittel nicht die gewünschte
Wirkung zeigen, bestehen allerdings keinerlei Bedenken, die bewährten Hammermedikamentationen der konventionellen Medizin in
Anspruch zu nehmen. In einer auf freier Selbstbestimmung basierenden Gesellschaft lässt sich gegen ein pragmatisch-opportunistisches
Vorgehen solcher Art kaum ein vernünftiger Einwand finden. Vielleicht hätte sich Kutschera einmal bei seiner eigenen Mutter erkundigen
sollen, wie sie es in seiner Kindheit mit dem Einsatz von Naturheilmethoden gehalten hat.
Wie nicht anders zu erwarten, beruft sich Kutschera nicht auf die Erfahrungskompetenz seiner Mutter, sondern auf einschlägig
bekannte, bereits in naturwissenschaftlichen Magazinen veröffentlichte homöopathiekritische Studien. Was hat er darüber hinaus
an eigenen Argumenten gegen die Homöopathie vorzubringen? Nichts Originelles, denn wie gehabt benutzt er seine naive Sicht vom
wissenschaftlichen Fortschritt in der Evolutionsbiologie als universelle Richtschnur für die Bewertung einer ihm dubios erscheinenden
Methodik: »Die feststehenden Lehrsätze (Dogmen) der Homöopathie haben sich im Verlauf der vergangenen 200 Jahre nicht verändert.
Würde der Begründer dieser Lehre, Samuel Hahnemann (1755 – 1843), heute eine Prüfung zum Thema ›klassische homöopathische Medizin‹ ablegen
müssen, so könnte er alle Fragen korrekt beantworten und würde als Elite-Absolvent seiner Jahrgangsstufe gewürdigt werden. Charles
Darwin (1809-1882) hätte jedoch keine Chance, im Fach Evolutionsbiologie eine Prüfung zu bestehen, da sich unsere moderne Synthetische
Theorie der biologischen Evolution weit über Darwins klassisches Prinzip der Deszendenz mit Modifikation durch natürliche Selektion
entwickelt hat. (…) Begriffe wie Genotyp, Phänotyp, Keimbahn-Mutationen, Gen-Duplikationen und so weiter waren Darwin unbekannt. Der
Naturforscher nutzte die Methoden seiner Zeit und wurde trotz dieser Beschränkungen zum Urvater der Evolutionsforschung.« Zu dieser
Argumentation ist einiges zu bemerken und richtig zu stellen:
Zunächst ist die Homöopathie aus derselben Geisteshaltung der Aufklärung entstanden, auf der auch die Quacksalberei des Atheismus
hohe Wellen schlug. Allerdings haben die Atheisten – und dafür ist Kutschera ein eindrucksvolles Beispiel – seit dem 18. Jahrhundert
definitiv nichts dazu gelernt. Dagegen sind religiöse oder auch naturheilkundliche Systeme keineswegs so statisch wie Kutschera uns
hier weismachen will. Deren Theoriegebäude sind mindestens ebenso variabel – wenn nicht sogar variabler – wie wissenschaftliche
Erklärungsmodelle. Dies bestätigt schon der Blick in ein altes Homöopathiewerk, das bislang unbeachtet in meiner Büchersammlung,
Abteilung historische Einbände, verstaubte. Es ist das »Handbuch der Homöopathie – Mit Benutzung fremder und eigener Erfahrungen
nach dem neusten Stande der Wissenschaft« bearbeitet von Dr. med. Adolph v. Gerhardt (4. Auflage 1886). In einem aufschlussreichen
Kommentar des Herausgebers heißt es: »In der Anlage dem Lehrbuche des verstorbenen Dr. Arthur Lutze ähnelnd, steht das v. Gerhardt’sche
Werk deswegen höher, weil es nicht den supra-naturalistischen Standpunkt des letztgenannten Werkes einnimmt und auch die Erfahrungen
neuerer homöopathischer Ärzte mit berücksichtigt, sich also nicht blos auf Hahnemann und Jahr stützt.« Mit anderen Worten: Die
Homöopathie war schon im 19. Jahrhundert keine fundamentalistische, ausschließlich auf die Lehrsätze ihres Begründers fixierte Lehre
mehr, sondern eine sich fortentwickelnde, d. h. neue Erfahrungen und Erkenntnisse einbeziehende Methodik.
Jetzt wird auch verständlich, warum Kutschera bei seinem Vergleich zwischen Homöopathie und Evolutionsbiologie einschränkend formuliert,
Hahnemann würde auch heute noch problemlos eine Prüfung in »klassisch-homöopathischer Medizin« bestehen. Offenbar ist ihm nicht
entgangen (vermutlich gewarnt durch einen Blick in den Homöopathie-Artikel bei Wikipedia, wo es im Abschnitt »Verschiedene Richtungen
der Homöopathie« einen Unterabschnitt »Klassische Homöopathie« gibt), dass es heute ein breites Spektrum als »homöopathisch« bezeichneter
Heilmethoden gibt, die weit über den ursprünglich von Samuel Hahnemann gesetzten Rahmen hinausgehen. Wie ist es in diesem Zusammenhang
um das Beharrungsvermögen des Darwinistischen Paradigmas bestellt? Hat sich die moderne Synthetische Theorie der biologischen Evolution
tatsächlich »weit über das klassische Prinzip der Deszendenz mit Modifikation durch natürliche Selektion entwickelt« wie von Kutschera
behauptet? Lassen wir einige unverdächtige Vertreter der Evolutionsbiologie zu Wort kommen. Z. B. stellt der derzeit wohl einflussreichste
Evolutionsbiologe der Gegenwart Richard Dawkins fest2): »Im Hinblick auf sichtbare Veränderungen, die sich auf das Überleben und
Fortpflanzen auswirken, ist die natürliche Selektion allmächtig.« Und der Biologiehistoriker Thomas Junker, der immerhin stellvertretender
Vorsitzender der AG Evolutionsbiologie (also des ›Kutschera-Clubs‹) ist, erklärt3): »Kern und integraler Bestandteil der modernen
Evolutionstheorie ist das Prinzip der natürlichen (Auslese) Selektion als wichtigster kausaler Faktor.«
Die Evolutionsbiologie ist mit ihrem ›allmächtigen Kernprinzip‹ der »natürlichen Selektion« offenbar ein mindestens ebenso dogmatisches
System, wie Kutschera dies von der Homöopathie behauptet. Deren zentraler und bis heute gültiger Lehrsatz lautet bekanntlich: »Ähnliches
werde durch Ähnliches geheilt«. Hahnemann und Darwin konnten nicht mehr erleben, dass die zentralen Dogmen ihrer Theorien durch immer neue
Hilfshypothesen4) erweitert und gegen widersprechende Befunde oder Alternativtheorien immunisiert werden mussten. Die Kernparadigmen, die
durch diese Hilfshypothesen verteidigt wurden, sind aber die Gleichen geblieben. Auch der alte Darwin hätte daher heute noch gute Aussichten,
eine Prüfung im Fach Evolutionsbiologie zu bestehen. Dass dies laut Kutschera nicht der Fall sein soll, erinnert mich an eine Situation, die
jeder kennt, der einmal in ein akademisches Milieu gerochen hat: Ein Altordinarius umgeben von einem Schwarm junger Mitarbeiter, von denen
alle der festen Überzeugung sind, der Alte habe von nichts mehr eine Ahnung. Und alle meinen, dies unwiderlegbar damit illustrieren zu können,
dass er heute keine Vordiplomsprüfung mehr bestehen würde. Das mag vielleicht zutreffen, wenn er an einen äußerst unsensiblen, beschränkten
Prüfer gerät, der immer nur bestimmte Stichwörter hören will. Kutschera hat keine Skrupel, sich als ein solch bonierter Prüfer darzustellen, der
nicht einmal in Lage wäre, das Genie eines Darwins zu erkennen und deshalb fähig wäre, ihn durchfallen zu lassen5). Ich kann mir daher
gut vorstellen, dass Kutschera an die Tür seines Prüfungszimmers zu Erbauung seiner »Elite-Studenten« folgenden Spruch aufgehängt hat: ›Hier fällt Darwin durch – Du nicht!‹
Wohl fast jeder hat im Laufe seines Lebens schon mal ein homöopathisches oder naturheilkundliches Mittel ausprobiert, sei es aus Überzeugung, sei es weil die Schulmedizin
ratlos ist, konventionelle Präparate mehr Nebenwirkungen als Wirkungen zeigen oder damit ein wohlmeinender Ratgeber, der es einem nachhaltig
ans Herz gelegt hat, endlich Ruhe gibt. Nicht selten ist dieser Ratgeber sogar ein normaler Kassenarzt, der empfiehlt, die konservative Therapie
durch naturheilkundliche Methoden zu ergänzen. Ich persönlich stehe der Wirksamkeit naturheilkundlicher Verfahren und insbesondere der Homöopathie
eher kritisch gegenüber. Trotzdem finde ich es richtig, dass sich der Gesetzgeber zu einer wissenschaftspluralistischen Einstellung in der Medizin
durchgerungen hat und homöopathische Mittel auch ohne schulwissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis zugelassen und verordnet werden dürfen. Denn
zweifelsfrei haben die Leute in einer so diffizilen und persönlichen Angelegenheit wie der Gesundheit ein Recht darauf, weitgehend selbst zu
entscheiden, welche Heilmethode ihnen hilft und gut tut, also was für sie wahr und real ist. Ich habe daher kein Verständnis dafür, wenn ein
nachweislich vom Wissenschaftsaberglauben befallener Evolutionsbiologe meint, eine alternative Heilmethode Kraft seiner akademischen Autorität
als »quasi-religiöse« Scharlatanerie verdammen zu können, weil sie nicht in sein simples Weltbild passt oder nach seiner Einschätzung
schulwissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt.
Tatsächlich sollte ein Schulwissenschaftler bei der Abqualifizierung von alternativen Heilmethoden ganz vorsichtig sein. Dies hat erst
jüngst die Geschichte mit der Akupunktur gezeigt. Obwohl sie in China seit Jahrtausenden gegen Krankheit, Schmerz und Sucht eingesetzt wird,
hatten klinische Versuche bezüglich ihrer Wirksamkeit bisher zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt. Von den Schulwissenschaftlern wurden
daher für ihre offensichtlichen Erfolge Placebo-Effekte verantwortlich gemacht. Erst durch eine Studie, in der ein äußerst geschickter
Versuchsaufbau verwendet wurde, konnte ein britisches Forscherteam zweifelsfrei nachweisen, dass die Akupunktur auch jenseits des Placebo-Effekts
wirksam ist6). Das Forscherteam von der University of Southampton hatte, um den Placebo-Effekt zu überprüfen, bei seinem klinischen Versuch neben
echten Nadeln teleskopische Nadeln eingesetzt, die ähnlich einem Bühnen-Dolch nicht in die Haut eindringen, dem Probanden aber gleichwohl das Gefühl
vermitteln, gestochen zu werden. Dies zeigt, dass aus einem negativen schulwissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis nicht automatisch folgt, dass ein
alternatives Heilverfahren nichts taugt, sondern dass dies genauso gut bedeuten kann, dass der gewählte Versuchsaufbau mangelhaft ist. Es ist zu
befürchten, dass diese lehrreiche Geschichte Kutschera nicht davon abhalten wird, auch noch die Akupunktur vor seinen akademischen Richterstuhl zu zerren.
Anmerkungen:
1) Kutschera neigt dazu, seine Berufsbezeichnung an das gerade von ihm behandelte Gebiet anzupassen. Er ist bekanntlich ein gelernter
Pflanzenphysiologe, dem später auch das Lehrgebiet Evolutionsbiologie übertragen wurde. Hier, wo es primär um eine medizinische Fragestellung geht,
abstrahiert er den Pflanzenphysiologen zum Physiologen, mit dem ja auch ein Mediziner gemeint sein könnte.
2) Dawkins, Richard (2008): Geschichten vom Ursprung des Lebens – Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. – Berlin
3) Junker, Thomas (2007): Schöpfung gegen Evolution – und keine Ende? – In: Kutschera, U. (Hg.): Kreationismus in Deutschland: Fakten und Analysen. – Münster
4) Hier sind die von Kutschera angeführten Begriffe »Genotyp, Phänotyp, Keimbahnmutationen, Genduplikationen« etc. zu nennen. Seine Auflistung
erweckt allerdings den Eindruck als würde er den Prüfungsstoff selbst nicht souverän beherrschen. Bekanntlich ist der Phänotyp eines Organismus
nicht allein durch den Genotyp, sondern auch durch epigenetischen Status (Epigenotyp) bestimmt. Mit der alleinigen Kenntnis der
Begriffe »Phäno- und Genotyp« läuft man daher heutzutage Gefahr, in einer Prüfung ziemlich alt auszusehen...
5) Aussichten, die Prüfung bei Kutschera zu bestehen, hätte Darwin wohl nur, wenn ihm zuvor die Möglichkeit eingeräumt würde, zumindest die erste Auflage
seines Kurzlehrbuches »Evolutionsbiologie« zu lesen. Übrigens ein Lehrbuch, das zeigt, dass man es in der Evolutionsbiologie auch als
pflanzenphysiologischer Quereinsteiger innerhalb kürzester Zeit zum Lehrbuchautor bringen kann, wenn man über ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein
verfügt und bereit ist, in Kauf zu nehmen, dass das Erstlingswerk von Fehlern und Lücken nur so strotzt.
6) Spiegel-Online vom 03.05.2005: »Akupunktur im Hirn messbar«. – URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,354383,00.html
G. M., 31.10.2008
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Im Namen einer rationalen Weltordnung gefällt sich der Wissenschaftsbetrieb
heute darin, alternative Heilverfahren als volksverdummende Scharlatanerie
zu verteufeln. Dabei haben die Schulwissenschaftler oft nicht einmal
einen ›Schnellsiedekurs‹ in den von ihnen kritisierten Heilmethoden gemacht,
so dass ihre einzige Qualifikation in ihrer akademischen Autorität besteht.
Der berühmte Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend kommentiert diese Arroganz
des Wissenschaftsbetriebs wie folgt:
»Dasselbe Unternehmen, das einst den Menschen die Kraft gab, sich von den
Ängsten und Vorurteilen einer tyrannischen Religion zu befreien, macht sie
nun zum Sklaven ihrer eigenen Interessen.«
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»Der deutsche Dawkins«
Dr. Ulrich Kutschera, der große Vorsitzende der AG Evolutionsbiologie und rabiate Anführer des
Widerstands gegen die vergleichsweise harmlosen Aktivitäten der deutschen Kreationisten ist ein hemmungsloser
Propagandist in eigener Sache. Dies bestätigt die Ankündigung des Deutschen Taschenbuch Verlages
für sein im Darwin-Jahr 2009 erscheinendes Buch »Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen
konnte«. Darin ist wieder einmal Superlatives über ihn und sein Werk zu lesen: »Ulrich Kutschera
gilt inzwischen als der ›deutsche Dawkins‹« und »Er legt hier das wichtigste Buch zum
Darwin-Jahr vor«. Leider lässt der DTV-Verlag im Dunkeln, von wem die überragende
Bewertung des Werkes stammt, so dass man wohl nur den Autor höchstselbst als Quelle vermuten kann. Bessere
Informationen liegen zu der Frage vor, wie es zu der Bezeichnung »deutscher Dawkins« gekommen ist.
2007 hatte Kutschera dem Online-Magazin »Geo.de« ein mit »Der Kreationismus
ist ein florierendes Business« übertiteltes Interview gegeben1). Bitterlich beklagt
er darin: »Ich bekomme fast täglich Schmähbriefe, die meist unsachlich sind und völlig
laienhafte Vorstellungen zum Thema Evolution enthalten. (...) Manche vergleichen mich inzwischen mit Richard Dawkins,
dem Autor von ›Das egoistische Gen‹, einem bekennenden Atheisten und Religionsgegner.« Offenbar machte
sich Kutschera schon damals Hoffnungen, als evolutionsbiologischer Märtyrer in die »Hall of Fame«
einzuziehen. Tatsächlich war er aber nicht von etablierten Evolutionsbiologen in die Nähe Dawkins
gerückt worden, sondern von den genervten Adressaten seiner penetranten weltanschaulich motivierten Attacken.
Sehen wir aber einmal großzügig über Kutscheras Hang zur Selbstüberhöhung hinweg
und vergleichen die deutsche Coverversion mit dem englischen Original.
Der Zoologe und Evolutionsbiologe Richard Dawkins gilt als zutiefst origineller und geistreicher Denker.
Für Douglas Adams ist er der beste Wissenschaftsautor, weil sein (metaphernreicher) Stil »klar,
elegant und von hohem intellektuellem Reiz« ist. Dawkins ist Autor des Klassikers
»Das egoistische Gen«, ein Werk, das bei seinem Erscheinen 1976 Furore machte und
auch über 30 Jahre später weder an Faszination noch an Aktualität eingebüßt hat.
Mit seinem jüngstem Buch »God Delusion« (»Der Gotteswahn«),
das nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern auch in Deutschland auf den Bestsellerlisten
stand, hat er die Gläubigen aller Religionen provoziert. Er hat fünf
Ehrendoktorwürden erhalten, wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet und ist (meinungs-)führendes
Mitglied von diversen atheistisch-humanistischen Organisationen. Laut dem Nachrichtenmagazin
»Der Spiegel« ist er der wohl einflussreichste Biologe unserer Zeit.
Seit 1995 ist Dawkins »Charles Simonyi Professor of the Public Understanding of Science
« an der Universität Oxford. Charles Simonyi ist nicht, wie man zunächst annehmen
könnte, ein verdienter Wissenschaftspopularisierer, sondern ein amerikanischer Milliardär, der sein
Geld als Softwareentwickler und Mitbegründer von Microsoft verdient hat. 2007 machte er durch seinen Flug
als Weltraumtourist zur internationalen Raumstation (ISS) Schlagzeilen. Simonyi, der ein bekennender
Anhänger Dawkins ist, hat den Lehrstuhl mittels einer Spende von 1,5 Millionen Pfund extra für
ihn gestiftet. Er beabsichtigte damit, das wissenschaftliche Verständnis der Öffentlichkeit zu erweitern.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Zoologe Dawkins seine steile evolutionsbiologische
Karriere und seinen Ruhm als begnadeter Wissenschaftsautor, nicht nur seiner außerordentlichen
schriftstellerischen Begabung, sondern zu einem Gutteil auch dem Spleen eines amerikanischen Milliardärs verdankt2).
Der Pflanzenphysiologe und Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera gilt nicht gerade als eloquenter oder
gar origineller Schreiber und schon gar nicht als jemand, der ein Laienpublikum zu fesseln vermag3).
Solange er Pflanzenphysiologe und Egelforscher war, kannten ihnen neben fachlichen Insidern vermutlich nur
einige Biologiestudenten als Lehrbuchautor. Dies änderte sich radikal als er den Kampf gegen den
Kreationismus (und in dessen Schlepptau auch die Evolutionsbiologie) als Karrieremotor entdeckt hatte. Aus dem
soliden Pflanzenphysiologen wurde innerhalb weniger Jahre ein evolutionistischer ›Anchorman‹, der fest
davon überzeugt war, sich in einem »intellektuellen Krieg« mit den Kreationisten zu
befinden. Vermutlich zeigt er deshalb so wenig Skrupel, bei seinen Auseinandersetzungen mit dem weltanschaulichen
Gegner die verbale Brechstange einzusetzen, und ihn mit unbelegten oder auch irreführenden Behauptungen zu
verunglimpfen.
Kutschera wurde 1992 auf den Lehrstuhl für Pflanzenphysiologe der Universität Kassel berufen.
Ab 1999 hatte er dann zusätzlich zu seiner pflanzenphysiologischen Lehr- und Forschungstätigkeit auch
eine evolutionsbiologische Anfängervorlesung inklusive Seminar angeboten. Seine »ausformulierten
Vorlesungsaufzeichnungen« hat er 2001 innerhalb kürzester Zeit zu einem evolutionsbiologischem
Lehrbuch verarbeitet. Daraufhin wurde ihm auf seine Initiative hin vom Fachbereich ab dem WS 2001 das neue Lehrgebiet
Evolutionsbiologie übertragen4). Bereits ein Jahr später wurde er zum Vorsitzenden der neu
gegründeten AG Evolutionsbiologie gewählt, die sich als ein »Gegenpol« zu der
schöpfungsgeschichtlich motivierten »Studiengemeinschaft Wort und Wissen« definiert.
Seit 2007 ist er zudem Gastprofessor am pflanzenbiologischen (also nicht etwa evolutionsbiologischen) Carnegie
Institut, das der Universität Stanford angegliedert ist.
Ohne Frage spielt Dawkins als evolutionsbiologischer Autor und Religionskritiker in einer Liga,
die Kutschera nur von der Zuschauertribüne kennt5). Dawkins gilt als
der bedeutendste lebende Religionskritiker und sein Werk hat nicht nur in der Biologie Furore machte,
sondern auch unübersehbare Spuren in vielen anderen Disziplinen von der Psychologie über
die Ökologie und Ökonomie bis hin Epistemologie hinterlassen. Kutschera ist es
dagegen außer mit seinen antikreationistischen Hetzkampagnen nicht gelungen, die Fachgebietsgrenzen
zu überspringen. Seine religionskritischen Streitschriften haben zwar erkleckliche Auflagen erzielt,
aber bisher die weltanschaulichen Bedürfnisse einer größeren Leserschaft nicht befriedigen
können6). Sein Publikum sind wohl in erster Linie Berufsatheisten, deren Gott den Namen
Darwin trägt und Biologielehrer oder -studenten, die durch fundierte, schöpfungsgeschichtlich
motivierte Evolutionstheoriekritik irritiert sind. Ihnen versichert Kutschera, dass der
Darwinismus (der immer noch das Zentrum der Evolutionsbiologie bildet)
trotz anderslautender Berichte nicht vor sich hinsiecht, sondern auf einem gutem Weg ist.
Nachbemerkung
In diesem Beitrag wurde geprüft, ob die Bezeichnung Kutscheras als »deutscher Dawkins«
substanziell gerechtfertigt oder nur ein hohler Werbegag ist. Das Ergebnis ist eindeutig: Kutschera ist kein
deutscher Dawkins, sondern bestenfalls seine teutonische Gartenzwergausgabe7). Erwartungsgemäß
hat Dawkins bei diesem ungleichen Vergleich über die Maßen gut abgeschnitten. Das hätte ganz
anders ausgesehen, wenn man ihn mit einem ernsthaften Konkurrenten, wie dem leider 2002 viel zu früh verstorbenen
amerikanischen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould verglichen hätte? Der war knapp 30 Jahre lang
Professor an der renommierten Harvard Universität und für seine wissenschaftliche Prosa fast ebenso berühmt
wie Dawkins. In zwei Dingen unterschied er sich allerdings grundlegend von ihm. Erstens verquacksalberte er die Evolutionstheorie
nicht zur Speerspitze einer religionsfeindlichen Weltanschauung. Und zweitens stand er dem Darwinismus insoweit kritisch
gegenüber als für ihn die Evolution nicht in kleinen Schritten, sondern eher in großen Sprüngen ablief.
Gould war Geologe und Paläontologe und wusste daher nur zu gut, dass sich die Baupläne der
Lebewesen sprunghaft ändern. Der Zoologe Dawkins dagegen beharrt bis heute auf sein Credo, dass
die Diskontinuitäten der geologischen Überlieferung täuschen, weil die Zwischenformen ausgestorben
und verschollen sind und in Wirklichkeit »buchstäblich jede Spezies über eine Linie des
allmählichen, kontinuierlichen Übergangs mit jeder anderen verbunden ist«. Dawkins
hat sich mit dieser Auffassung, die seit Darwin reine Spekulation ist, in eine Sackgasse manövriert.
Er verliert immer dann die Fassung, wenn andere Evolutionsbiologen ihm auf diesem Weg nicht folgen wollen.
Überdeutlich zeigt sich dies in seinem Buch »Geschichten vom Ursprung des Lebens - Eine Zeitreise
auf den Spuren Darwins« (Die deutsche Ausgabe erschien 2008). Darin besteht er darauf, dass selbst
die kambrische Explosion vor 530 Millionen Jahren, die so etwas wie der Urknall des vielzelligen Lebens ist, mit
nichts anderem als einer gradualistisch-selektionistischen Verschiebung von Genfrequenzen in Populationen zu
erklären ist.
Nun gibt es eine Reihe ernstzunehmender Evolutionsbiologen, die über das plötzliche Auftauchen
vielfältigster Baupläne so erstaunt sind, dass sie von einer »Über-Nacht-Explosion«,
einem »entwicklungsgeschichtlichem Sprung«, einer Vielzahl von »Weitsprung-Mutationen«
oder einer unbekannten »Triebfeder der Evolution, die nach dem Kambrium ihre Kraft verlor«
sprechen. Für Dawkins ist solche Prosa in keiner Weise akzeptabel und er beschuldigt ihre Urheber, auf
Grundlage einer »romantisch-überspannten« Geisteshaltung »völligen Unsinn«
zu verbreiten. Als wenn das nicht schon abwertend genug wäre, fügt er sichtlich verärgert hinzu:
»Das ist alles schlicht und einfach bescheuert.« Was um alles in der Welt lässt
Dawkins, der für seine fast poetische Ausdrucksweise berühmt ist, hier auf so vulgäre
Weise arrogant und ausfällig werden? Fragte man die Volkspsychologie so würde die Antwort sicherlich
lauten: Dieser Mann ist höchst verunsichert! Angesichts der erheblichen Diskrepanzen zwischen seinen
theoretischen Erwartungen und den empirischen Befunden aus der geologischen Überlieferung
ist dies auch kein Wunder. Dawkins Ego, das uns so erfrischend provokante Geschichten über
egoistische Gene erzählt hat, stößt hier offensichtlich an schmerzhafte Grenzen.
Anmerkungen:
1) Dieses Interview hätte eigentlich besser lauten sollen, »Der Antikreationismus
ist ein florierendes Business«, denn zweifellos ist Kutschera mit seinen
Büchern erst dann so richtig ins Geschäft gekommen, als er sie zur Plattform seines
Kampfes gegen den Kreationismus gemacht hat. Er selbst kommentiert den Erfolg seines Evolutionslehrbuches
auf seiner Website wie folgt: »Die Darstellung und Offenlegung eines bisher tabuisierten
Problems hat zur weiten Verbreitung dieses Buches beigetragen.«
2) Stiftungsprofessuren gibt es auch beim weltanschaulichen Gegner. Z. B gibt es seit 2004
eine über religiöse Stiftungen finanzierte Guardini-Professur für Religionsphilosophie
und Katholische Weltanschauung an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin.
Sie ist nach dem bedeutenden Religionsphilosophen Romano Guardini (1885-1968) benannt.
»Aufgabe und Ziel der Professur bestehen darin, im Sinne Guardinis Antworten auf das Woher und
Wohin der Menschheit vor dem Hintergrund immer neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer
Möglichkeiten zu geben«. Von Wissenschaftlern, die sich dem Atheismus verpflichtet
fühlen, werden kirchliche Stiftungsprofessuren gewöhnlich sehr misstrauisch beäugt.
3) Wohl in Anlehnung an sein bedeutendes Vorbild versucht auch Kutschera, seinen
Stil durch Metaphern anzureichern. Allerdings kommt regelmäßig ziemlich Schräges dabei
heraus, z. B. wenn er in seinem neustem Werk Darwin als »Mozart der Biologie«
würdigt. Selbst das ihm eher wohlgesonnene Magazin Focus, das in seiner, anlässlich
von Darwins 200. Geburtstag der Evolutionstheorie gewidmeten Ausgabe vom 01.12.08 eine Auswahl
von Produkten der »regelrechten Darwin-Buchindustrie« vorstellt, kommentiert wie
folgt: »Mehr als unglücklich: Kutscheras ausführliche Interpretation Darwins als
›Mozart der Biologie‹.«
4) Die Bedingung war allerdings, dass seine bisherige Lehr- und Forschungstätigkeit von
der zusätzlichen Lehraufgabe nicht beeinträchtigt würde und aus der freiwilligen Übernahme
keine zusätzlichen Mittelansprüche abzuleiten sind. Da Kutschera sicherlich bereits
durch seine vorherige Tätigkeit ausgelastet war, hat er die zusätzliche Lehrtätigkeit
quasi in seiner Freizeit durchgeführt. Ich könnte mir daher gut vorstellen, dass er sich zur
vollen Entfaltung seines missionarischen Kampfes gegen den Kreationismus auch so einen großzügigen
Sponsor wünscht, wie ihn Dawkins aufweisen kann.
5) Da Dawkins beabsichtigt, seinen Lehrstuhl aus Altersgründen zur
Verfügung zu stellen, kann Kutschera in Kürze testen, ob er - wie mir
eingeschätzt - nur auf der Zuschauertribüne sitzt, oder als ›German Player‹
mit internationalen Ambitionen bereits auf der Transferliste steht.
6) Allein von Dawkins Bestseller »Der Gotteswahn« wurden
im ersten Jahr nach der Auslieferung in Deutschland mit über 160.000 Exemplaren wohl
weitaus mehr Bücher verkauft als von sämtlichen Büchern, die Kutschera bis
heute als Autor oder Herausgeber publiziert hat. Sollte ich mit dieser Überschlagsrechnung
falsch liegen, werde ich sie selbstverständlich korrigieren.
7) Aus dem trivialen Material, das im Vorfeld des Erscheinens von Kutscheras
neuem Buch »Tatsache Evolution« der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht wurde, kann man keine tiefgründige Geschichte machen. Die Nachbemerkung fällt
daher etwas länger als gewöhnlich aus.
G. M., 18.12.2008
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Das englische Original und die deutsche
Coverversion:
Dawkins ruft weltweit zum ›Dschihad‹ gegen die Ausbreitung des Gottesglaubens
auf, Kutschera agiert nur deutschlandweit. Dawkins provokante Bücher bewegen
die Welt, Kutscheras Interviews irritieren Deutschland. Die unübersehbare Differenz
zwischen diesen beiden exponierten Wissenschaftlern zeigt sich nicht nur in der Größe
ihres Einflussbereiches oder ihrer intellektuellen Wertigkeit, sondern auch in ihrem Charisma:
Es heißt, dass sich Oxfords Kirchgänger bekreuzigen, wenn sie Dawkins auf der
Straße begegnen und dass auf seinen Lesereisen begeisterte Zuhörer versuchen, ihm - gleich
freudetrunkenen Pilgern dem Papst - die Hände zu schütteln. Von Kutschera sind
solcherlei Anekdoten bisher nicht bekannt.
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Wo kommen bloß die Schwulen her?
Der Pflanzenphysiologe und Evolutionsbiologe Prof. Dr. Ulrich Kutschera ist dafür berüchtigt,
in seinen Interviews Halbgares und Verstörendes über Gott, die Welt und die Evolution zu verbreiten.
Höhepunkte der letztjährigen Saison waren Interviews, die er dem Focus online »Wir
sind nur eine von Millionen Tierarten« (29.11.08) und dem Hamburger Abendblatt »In Europa
läuft die Evolution rückwärts« (21.10.08) gegeben hat.
Im Focus online Interview schlägt er vor, Schimpansen, deren proteinbildende Gene eine sehr
hohe Übereinstimmung mit denen des Menschen aufweisen, als »zweite Menschenart«
zu definieren. Dies sei nicht nur »biologisch sinnvoll«, sondern würde sie auch
vor »Ausrottung schützen«, da ihnen dann »Menschenrechte«
zustünden. Diese »Konsequenz aus der evolutionären Ethik« würde aber
»bei christlich-konservativen Personen, die an biblische Dogmen und Wunder glauben«
auf Ablehnung stoßen.
Es ist zu befürchten, dass nicht nur Gläubige, sondern auch garantiert Ungläubige,
(also die betroffenen Schimpansen selber) mit dieser in jüngster Zeit auch von einigen Philosophen
sowie Natur- und Tierschutzorganisationen erhobenen Forderung so ihre Probleme haben werden. Es mag zwar
sein, dass die Menschenrechte den Schimpansen einen besseren Schutz vor Verfolgung oder eine Grundversorgung
an Bananen garantieren. Aber wie steht es um die Pflichten, die mit der Verleihung von Menschenrechten
verbunden sind?
Denken wir nur an den Klanführer einer Horde, der gerade einen anderen Schimpansen zerfleischt hat,
weil der sich an seine Weiber rangemacht hat. Läuft der nicht zukünftig Gefahr von der mobilen
Eingreiftruppe einer humanitären Organisation* aus seinem Reservat verschleppt und
vor einem internationalen Menschenrechtshof gezerrt zu werden? Absehbares Urteil: 20 Jahre Zuchthaus wegen
brutalen Mordes aus niederen Motiven mit anschließender Sicherheitsverwahrung wegen ungünstiger
Sozialprognose.
Da die Tat des Klanführers gerade aus darwinistischer Sicht unvermeidbar ist, werden die Schimpansen
sich bei »evolutionären Ethikern« vom Schlage Kutschera für ihre
Zwangshumanisierung bedanken. Was weiß der schon von ihren Bedürfnissen? Offenbar nicht viel,
denn auf die Frage des Focus' online, wie sich das Phänomen Homosexualität mit Hilfe
der Evolutionstheorie erklären lasse, antwortete er: »(...) Homosexualität gibt es nur
(bzw. fast ausschließlich) beim Menschen, wobei hier neben der biologischen die kulturelle Evolution
hineinspielt«.
Diese Behauptung ist nun wirklich der pure Blödsinn und bezeugt, dass der Biologe Kutschera
von der tierischen Sexualität in etwa so viel Ahnung hat, wie ein enthaltsam lebender päpstlicher
Legat vom Analverkehr. Tatsächlich ist homosexuelles Verhalten nicht nur bei Schimpansen, sondern in
tausenden Fällen quer durch das gesamte Tierreich dokumentiert. So listet der amerikanische Biologe
Bruce Bagemihl (1999) in seinem Standardwerk »Biological Exhuberance – Animal
Homosexuality and Natural Diversity« allein über 400 Säugetier- und Vogelarten, bei
denen tierische Homosexualität beobachtet wurde.
Dies beginnt bei Hyänenweibchen, die vaginale Pseudopenisse besitzen, und die bei der Begrüßung
von anderen Weibchen beleckt werden und vor Freude erigieren, geht über das soziale Gefüge von
multigeschlechtlichen Kampfläufern mit vier verschiedenen Kategorien von Männchen, von denen einige
umeinander werben und sich miteinander paaren und endet bei Schimpansenweibchen, die über Jahre hinweg
durch Brustwarzenstimulierung ihre Trächtigkeit verhindern und gleichwohl Hetero-, Homo- oder auch
masturbierenden Sex praktizieren.
An der Wissenschaftsfront wird deshalb schon lange nicht mehr darüber diskutiert, ob es Homosexualität
bei Tieren gibt, sondern warum sie solange von der »scientific community« verdrängt wurde.
Kutscheras spontane Fehleinschätzung knüpft in diesem Zusammenhang nahtlos an die Erkenntnisverweigerung
von homophoben Verhaltensforschern an, die das weit verbreitete Vorkommen von Homosexualität bei Tieren jahrzehntelang
ignoriert und heruntergespielt oder als unnatürlich abqualifiziert und verschwiegen haben.
Die Verdrängung der tierischen Homosexualität war wesentlich von zwei Faktoren bestimmt: Erstens von
der verbreiteten Vorstellung, dass homosexuelles Verhalten ein dekadentes kulturelles Phänomen ist, das nicht
in der (unberührten) Natur, sondern höchstens in der Gefangenschaft oder bei domestizierten Tieren vorkommt.
Und zweitens davon, dass sie im Rahmen des (neo-)darwinistischen Standardmodells der Evolutionstheorie, nach der nur
diejenigen überleben, die sich erfolgreich fortpflanzen, so schlecht zu erklären ist.
Soll heißen: Was moralisch nicht sein darf und evolutionär nicht sein kann, existiert auch nicht. Gegen
solcherlei Wirklichkeitsbeschwörungen ist die tierische ›Lebewelt‹ natürlich immun und wer
wie Kutschera nichts von der variantenreichen Hülle und Fülle der tierischen Homosexualität
weiß, muss sich vorwerfen lassen, was er selber im Zusammenhang mit der Kenntnis der Evolutionstheorie immer
wieder den Laien unterstellt – nämlich über ein »erstaunliches Wissensdefizit«
gerade in seinem Fachgebiet zu verfügen.
Wissensdefizit ist im Übrigen nicht gleich Wissensdefizit, denn wenn
es auch beim Volke verzeihlich ist, so darf dieses Volk von einem hochbezahlten deutschen Biologieprofessor erwarten,
dass er über Phänomene, zu denen er sich in Interviews fachwissenschaftlich äußert, bestens
informiert ist und keine lückenhaften, von Vorurteilen genährten Statements abgibt. Das Wort eines Professors
gilt schließlich noch etwas in Deutschland und sollte nicht fahrlässig - wie in diesem Fall - homophobe
Vorurteile transportieren oder zementieren.
Kutschera greift in dem Interview mit dem Hamburger Abendblatt eine schräge Metapher des
populären britischen Genetikers Steve Jones auf, die besagt, dass die biologische Evolution beim
Menschen (oder doch zumindest in hochzivilisierten Menschengruppen) zum »Stillstand gekommen«
ist bzw. im »Rückwärtsgang abläuft«, weil die natürliche Selektion und
die Erzeugung genetischer Variabilität durch die »kulturelle Evolution« ausgeschaltet
wird. Tatsächlich zeigen Kutscheras ahnungslose Äußerungen über die Verbreitung der
tierischen Homosexualität, dass wenn sich irgendetwas im Rückwärtsgang befindet, es die Qualität
der Rede über die Evolutionstheorie aus seinem Munde ist.
Bleibt noch die Eingangsfrage zu beantworten: »Wo kommen bloß die Schwulen her?«.
Die Antwort ist relativ simpel: Der liebe Gott hat eben einen großen Tiergarten! Und in dem geht es offenbar
erheblich vielfältiger zu als es sich die Neodarwinisten auch noch in Zeiten der »Erweiterten
modernen Synthese der darwinistischen Evolutionstheorie« vorstellen können. Wenn überhaupt
dann wird in der Evolution nur nachrangig auf Funktions- und Fortpflanzungsfähigkeit oder gar optimale
Anpassung, sondern – wie z. B. die vielen schwulen Tiere eindrücklich zeigen – vor allem auf
Überfülle und Überschwang selektiert. Oder wie es in der 80er-Jahre Teenie-Komö
die »Bill & Ted’s verrückte Reise durch die Zeit« die Ergebnisse auch noch
der modernsten evolutionsbiologischen Forschung vorwegnehmend formuliert wird:
»Bunt ist das Leben und granatenstark. Und volle Kanne, Hoschis!«
Nachbemerkung
Mit Datum vom 04.12.08 wurde im Newsticker der Homepage der AG Evolutionsbiologie im Verband der Biologie,
Biowissenschaften & Biomedizin (VdBiol) auf Kutscheras Interview im Focus online
aufmerksam gemacht. Der hinweisgebende Text lautet: »Evolution ist keine Theorie mehr,
sondern eine Tatsache, sagt der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera. Und doch gibt es Lücken.«
Zu diesem Zeitpunkt war dem Geschäftsführer der AG Evolutionsbiologie Martin Neukamm bereits
aus einem Internet-Diskussionsforum bekannt, dass nicht nur die Evolutionstheorie, sondern vor allem auch
Kutscheras fachwissenschaftliche Kenntnisse über die Homosexualität bei Tieren ausgesprochen
lückenhaft sind. Vor dem Hintergrund der irreführenden Verbreitung von bekanntermaßen falschen
Fakten durch die AG Evolutionsbiologie kann sich jeder Leser selbst ein Urteil darüber bilden, was davon
zu halten ist, wenn ihr großer Vorsitzender nicht nachlassend behauptet: »Evolution ist keine
Theorie mehr, sondern eine Tatsache.«
Anmerkung
*Bekanntlich hat die humanitäre Intervention schon bei uns Menschen selber zu manchem
Drama geführt. Denken wir hier nur an Somalia, den Irak oder das Kosovo. Es ist zu befürchten,
dass es 1000 Kosovos in der afrikanischen Savanne geben wird, wenn die Affen-Menschenrechtler ernst machen.
G.M., 22.01.09
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Homosexuelle Praktiken sind kein – wie auch noch heute von manchem Biologen behauptet
wird – (dekadentes) kulturelles Phänomen, sondern im gesamten Tierreich –
wie z. B. diese aufreitenden Hirsche zeigen – in geradezu überschäumender
Hülle und Fülle verbreitet.
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»Evolution ist eine Tatsache, das Schnabeltier existiert.«
[Text als PDF-Datei, 222 kb]
Am 16.01.2009 verkündete Kutschera in der 3sat Wissenschaftsserie »nano« seine neuste Parole: »Evolution ist eine Tatsache,
das Schnabeltier existiert.« Wie ich noch zeigen werde, ist sie zweifellos eine der unsinnigsten (und auch ahnungslosesten)
Aussagen, die er je gemacht hat, um dem Laien die Welt zu erklären. Wissenschaftlich ist sie genauso wenig ausweisbar,
wie die Aussage »Schöpfung ist eine Tatsache, der Mensch existiert.« Die hat allerdings noch den Vorzug, dass sie wenigstens
als Glaubenssatz, der sich auf die Genesis berufen kann, Sinn macht. Da Kutschera mit seiner markigen Parole wohl keine neue
Evolutionsreligion begründen wollte, ist zu befürchten, dass er sie ganz naturalistisch verstanden haben will. Etwa in dem
Sinne, dass er einem Laienpublikum, das an Eignung der darwinschen Evolutionstheorie zweifelt, komplexe Lebewesen zu erklären,
versichert: Jeglicher Zweifel an der Evolutionstheorie ist schon deshalb unangebracht, weil für moderne
Evolutionsbiologen (wie vor allem ihn selber) auch noch die paradoxesten Lebewesen kein Rätsel mehr sind. Wir wollen im
Folgenden dokumentieren und rekonstruieren, warum er sich mit einem solchen Ansinnen so richtig verhoben hat. Nebenbei
erfahren wir auch Bemerkenswertes über das seltsame Schnabeltier und die zwar weniger originelle, aber noch seltsamere
Art des Evolutionisten Kutschera, Wissenschaft zu betreiben.
Leider bin ich zu spät auf die Sendung, in der Kutschera seine neue Parole laut
3sat-online verkündete, aufmerksam gemacht
worden. Ich greife daher, bezüglich des argumentativen Umfeldes, in das seine Parole einzuordnen ist, auf sein aktuelles,
pünktlich zum Darwin-Jahr 2009 erschienenes Werk »Tatsache Evolution - Was Darwin nicht wissen konnte« zurück. Darin ist
nicht nur – wie der Titel schon ankündigt – viel von der Evolution als einer Tatsache, sondern auch von der Existenz des
Schnabeltieres die Rede. Widmen wir uns zunächst dem ersten Teil der Parole. Kutschera wird häufig beschuldigt, selber
dogmatisch zu argumentieren, weil er den hypothetischen Charakter allen Wissens ignorierend, die Evolution regelmäßig
als eine unverrückbare Tatsache bezeichnet. Hierzu stellt er fest, »dass es in den Naturwissenschaften keine
feststehenden Glaubenssätze (Dogmen) gibt« und fügt dann richtigstellend hinzu: »Den mir hier und anderswo immer wieder
unterstellten Satz ›die Evolutionstheorie ist eine Tatsache‹, habe ich nie ausgesprochen oder gar publiziert. Ich habe
jedoch wiederholt gesagt, dass die Evolution ein realhistorischer Prozess ist, der stattgefunden hat, andauert und mit
naturwissenschaftlichen Methoden analysiert werden kann. Das historische Gewordensein der Organismen ist somit eine
belegte Tatsache, die durch ein System verschiedener Theorien aus den Bio- und Geowissenschaften im Prinzip erklärt werden kann.«
Es hat eine gewisse Komik, dass sich Kutschera in seiner Richtigstellung genau von der falschen Formulierung distanziert.
Es kann nämlich durchaus Sinn machen, von der »Evolutionstheorie als einer Tatsache« zu reden, z. B. wenn man ihre disziplinäre
oder gesellschaftliche Realität oder Virulenz betonen will. Kutschera hat nicht gemerkt, dass seine Kritiker, ihm hier – wohl
eher aus Versehen – etwas halbwegs Intelligentes unterstellt haben. Überhaupt keinen Sinn macht (und überhaupt nicht intelligent ist)
es aber, die »Evolution als eine Tatsache« zu bezeichnen, die mit wissenschaftlichen Theorien abgebildet werden kann. Diese
Auffassung nennt man auch Korrespondenztheorie der Wahrheit. Nach dieser Theorie sind Aussagen genau dann wahr, wenn sie mit
den Tatsachen in der Welt übereinstimmen. Dies ist nun wirklich das primitivste wissenschaftstheoretische Selbstverständnis,
das man sich vorstellen kann. Schon deshalb, weil es einfach keine neutrale Position außerhalb der eigenen Überzeugungen gibt,
von der aus man solche Übereinstimmungen überprüfen könnte. Als ernstzunehmender Wissenschaftler hat sich Kutschera mit seinem
einfältigen Glauben an die Korrespondenztheorie disqualifiziert. Prächtig verstehen würde er sich allerdings mit dem Kirchenlehrer
Thomas von Aquin (1225–1274), der ebenfalls glaubte, dass die Wahrheitsfindung in der Übereinstimmung von Gegenstand und Verstand
bestehen würde.1)
Wenden wir uns nach dieser subfossilen Theorie der Erkenntnisgewinnung einem auf dem ersten Blick leibhaftigen lebenden
Fossil zu, nämlich dem von Kutschera als Evolutionsbeweis angeführten Schnabeltier zu. Es gilt als Inbegriff des biologischen
Kuriosums. Es hat Merkmale, wie das Eierlegen und Brüten, den Giftsporn, die Kloake oder den Schnabel, die auf eine
Verwandtschaft zu Vögeln und Reptilien hinweisen. Andere Merkmale, wie das dichte Fell, die Gehörknöchelchen und die Aufzucht
der Jungen mit Milch deuten auf eine Säugetierverwandtschaft hin. Die vor einem Jahr publizierte Entschlüsselung seines Erbgutes förderte
weitere Überraschungen zu Tage. Nicht ganz unerwartet konnten Warren et al. (2008) zwar zeigen, dass sich sein ungewöhnlicher
Mosaikcharakter in seinem Genom widerspiegelt. Über das Ausmaß der Bizarrheit seiner Genorganisation war man dann aber doch überrascht.
Rund 80 % seines Erbgutes teilt es mit anderen Säugetieren, sowie Reptilien und Vögeln. Die
restlichen 20 % kommen exklusiv nur beim Schnabeltier vor. Der Biologe Richard Gibbs, der das »Human Genome Sequencing Center
at Baylor College of Medicine in Houston, Texas« leitet, kommentiert die Ergebnisse der Genomentzifferung wie
folgt (vgl. Brown 2008): ›Es gibt nichts, was so geheimnisvoll wie ein Schnabeltier ist, wir finden in seinem Genom diese
reptilienähnlichen Muster, diese später evolvierten Milchgene und eine unabhängige Evolution des Giftes. (...).‹. Mit anderen
Worten, die 2008 gelungene Entzifferung seines Genoms hat zwar seinen Patchwork-Charakter bestätigt, seine Evolution aber
nicht weniger rätselhaft gemacht.
Das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus) ist nicht nur morphologisch, sondern auch genetisch eine bizarre Mixtur.
Da drängt sich dich die Frage auf, weshalb Kutschera ausgerechnet die Existenz eines morphologisch wie genomisch so
außergewöhnlich rätselhaften Tieres als Tatsachenbeweis für Evolution anführt? Warum hat er nicht die Fruchtfliege oder
noch besser den Birkenspanner oder den Darwinfinken selber, die bekanntlich als selektive oder auch darwinistische
Musterknaben gelten, als ultimativen Evolutionsbeweis genommen? Einleitend hatte ich vermutet, dass er mit seiner
markigen Parole gegenüber einer skeptischen Öffentlichkeit klarstellen wollte, dass jegliche Zweifel an der Evolution
schon deshalb unzeitgemäß sind, weil für moderne Evolutionisten auch noch die paradoxesten Lebewesen kein Rätsel mehr
sind. Nun gilt das Schnabeltier aus guten Gründen seit seiner Entdeckung als »Alptraum der Zoologen«. Wenn Kutschera
tatsächlich in der Lage wäre, die Mechanismen zu rekonstruieren, die diesen »Unfall der Evolution« herbeigeführt haben,
dann stünden ihm nicht nur die Spalten der weltweit führenden Wissenschaftsmagazine Nature und Science (die ihm bisher
verschlossen blieben) offen, sondern ein Nobelpreis wäre ihm sicher. Was also steckt dahinter, dass er sich hier soweit
aus dem Fenster herauslehnt? Gewöhnlich tut er dies vor allem dann, wenn er Kreationisten attackiert. Dabei wird er
nicht nur »unangenehm aggressiv«, wie eine FAZ-Redakteurin kürzlich treffend bemerkte, sondern neigt auch dazu, die
abenteuerlichsten Behauptungen in die Welt zu setzen.
Was haben nun die Kreationisten mit dem Schnabeltier zu tun? Dazu muss man wissen, dass das Schnabeltier heute in die
Klasse der Säugetiere gestellt wird, weil es seinen Nachwuchs mit Muttermilch ernährt und ein dichtes Fell hat. So richtig
überzeugend ist diese Klassifikation aufgrund seiner skurrilen Merkmalskombination aber nicht. In Evolutionslehrbüchern
wird es daher gerne, die taxonomischen Probleme überspielend, als Musterbeispiel für eine Übergangsform zwischen Reptilien
und Säugetieren dargestellt. Von Kreationisten wird dies heftig kritisiert. Sie führen das Schnabeltier als Musterbeispiel
dafür an, wie von den Evolutionisten sperrige Befunde zurechtgebogen werden. Sie argumentieren, dass man von einer echten
Übergangsform eine langsame Veränderung von Merkmalen und keine Kombination voll ausgebildeter Merkmale, wie z. B. das
wärmedämmende Fell, die komplexen Gehörknöchelchen, den elektrosensiblen Tastschnabel oder den für Säugetiere eher seltsamen
Giftsporn erwarten würde. Es sei keine Übergangs-, sondern vielmehr eine Mosaikform. Das Schnabeltier ist in der Auseinandersetzung
zwischen Evolutionisten und Kreationisten kein unbeschriebenes Blatt, sondern ein höchst umstrittenes Symboltier, mit dem beide
Konfliktparteien die Richtigkeit ihrer Position untermauern. Kein Wunder, dass der Antikreationist Kutschera es im Darwinjahr
als Evolutionsbeweis reklamiert und demonstrativ auf seine Fahne heftet.
Prüfen wir nun, inwieweit es Kutschera in seinem aktuellen Werk »Tatsache Evolution« gelingt, seine vollmundige
Schnabeltierparole mit Argumenten zu unterfüttern. Im Kapitel »Das australische Schnabeltier: Eine
Bauplan-Zwischenform« erfahren wir, dass es »im frühen 19. Jahrhundert« in den »Flussregionen des östlichen
Australiens und Tasmaniens« entdeckt und »wenig später einzelne ausgestopfte Tiere« nach Europa gebracht wurden.
Ferner habe der französische Naturforscher J.- B. de Lamarck um 1810 aus seiner Untersuchung der Schnabeltiere die
Schlussfolgerung gezogen, dass sie »primitive Ur-Säugetiere (Prototheria) sein könnten«. Diese »scharfsinnige
Lamarcksche Prototheria-Hypothese« habe sich aber erst 1884 bestätigt, als definitiv nachgewiesen wurde, »dass
Schnabeltiere Eier legen und ihre Jungen über abgesonderte Muttermilch ernähren.« Darüber hinaus habe die 2008
erfolgte Genomsequenzierung gezeigt, dass sich die Bauplan-Mischform des Phänotyps im Genotyp widerspiegelt.
Originalton Kutschera: »Der Misch-Phänotyp von Ornithorhynchus – eine ›Eier legende, mit Entenschnabel und
Bieberschwanz versehene Wasserratte‹ – ist somit auch auf dem Niveau des Genotyps ausgeprägt.«2) Auch die
Genom-Analytik habe damit »die erstmals von Lamarck formulierte Proto-Mammalia-Hypothese« bestätigt. Schon hierzu
ist einiges Richtigzustellen und zu ergänzen:
Das Schnabeltier wurde nicht »im frühen 19. Jahrhundert« von europäischen Kolonisten entdeckt und nach Europa gebracht,
sondern dies geschah bereits im späten 18. Jahrhundert. Die erste bekannte Sichtung stammt von einem Oberstleutnant
David Collins, der 1797 an den Ufern eines Sees in der Nähe des Hawkesbury Rivers in Neusüdwales einen amphibisch
lebenden ›Maulwurf‹ beobachtet hatte. In seinem 1802 publizierten »Account of the English Colony in New South
Wales« beschreibt er den von ihm neu entdeckten ›Wassermaulwurf‹ wie folgt: »In size it was considerably larger than
the land mole. (…) The tail of the animal was thick, short and very fat; but the most extraordinary circumstance observed
in its structure was, having instead of the mouth of an animal, the upper and lower mandibles of a duck.« Weitere Sichtungen
sind aus dem darauf folgenden Jahr dokumentiert: So hatte der begeisterte Naturforscher und zweite Gouverneur von Neusüdwales
John Hunter an einem Fluss in der Nähe von Sydney Aborigines dabei beobachtet, wie sie ›ein kleines, amphibisches Tier nach
der Art eines Maulwurfes‹ aufspießten, das heftig um sein Leben kämpfte. Und auch dem britischen Kapitän und bedeutenden
Entdecker Matthew Flinder waren 1798 bei einer Expedition entlang der Südostküste Australiens ›seltsame Wassermaulwürfe‹ aufgefallen.
Die ersten getrockneten (oder auch in Spiritus eingelegten) Bälge wurden bereits 1798 nach Europa geschickt. Die wissenschaftliche
Erstbeschreibung erfolgte durch den Zoologen George Shaw (1751–1813), der Kustos der Abteilung für Naturgeschichte des Britischen
Museum in London war. Die Ergebnisse seiner Untersuchung publizierte er 1799 in Band 10 der damals bedeutenden Reihe »Naturalist’s
Miscellany: or Coloured Figures of Natural Objects Drawn and Described Immediatly from Nature«. Shaw betonte zu Beginn seiner
Beschreibung, dass es unmöglich sei, nicht einige Zweifel an der Echtheit des Tieres zu hegen, weil es das von bisher allen
bekannten Säugetieren am meisten Außergewöhnliche in seiner Gestalt sei. Es habe einen Schnabel, der eine perfekte Ähnlichkeit
zu dem einer Ente zeige, und der auf dem Kopf eines Vierbeiners aufgepflanzt sei. Er gab der Art den wissenschaftlichen Namen
Platypus anatinus. Ein Jahr nach seiner Erstbeschreibung veröffentlichte der deutsche Anatom Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840),
der als einer der vielseitigsten Naturforscher seiner Zeit galt, eine zweite Beschreibung des Tieres und nannte es Ornithorhynchus
paradoxus. Da der von Shaw gewählte Gattungsname bereits durch einen früher beschriebenen Käfer taxonomisch belegt war, einigte man
sich in salomonischer Weise auf den Namen Ornithorhynchus anatinus. So wurde aus einem entenartigen Plattfuß und einem paradoxen
Vogelschnabel schlussendlich ein entenartiger Vogelschnabel.3)
Kein Naturforscher der damaligen Zeit hat die Existenz einer solch grotesken Kreatur, die Merkmale aus so unterschiedlichen Tierklassen
in sich vereint, für möglich gehalten. Und zwar obwohl – wie der versierte Naturhistoriker Herbert Wendt (1956) zu recht bemerkt – gerade
im 19. Jahrhundert (dem Zeitalter der Evolutionstheorien) ein immenser Bedarf an hypothetischen, bereits auf dem Papier konstruierten
Wesen vorhanden war, um Lücken in den entworfenen Stammbäumen zu stopfen. Im Gegenteil die ersten Berichte und Bälge wurden von europäischen
Naturforschern mit größter Skepsis und als kolonialer Hoax betrachtet. Auch Shaw hatte den ihm vorliegenden Balg sorgfältigst auf Nahtstellen
untersucht, um sicher zu sein, dass er nicht von chinesischen Tierpräparatoren stammte, die europäische Seefahrer schon mit anderen kunstvoll
angefertigten Fabelwesen-Mumien, wie z. B. Seejungfrauen getäuscht hatten. Der Naturforscher Hunter (einer der kolonialen Erstbeobachter) war
so verwundert, dass er sie als das Ergebnis eines »promiskuitiven Verkehrs unterschiedlicher Tiergeschlechter« auf einem von Gott
vernachlässigten Kontinent betrachtete. Und selbst Darwin stimmte bei seiner Reise mit der Beagle der Anblick von Schnabeltieren so
nachdenklich, dass er 1836 in einem Tagebucheintrag darüber grübelte, ob in Australien und dem Rest der Welt nicht »zwei verschiedene
Schöpfer am Werk gewesen« sind oder »der Schöpfer« doch zumindest eine Ruhepause in seinem »Labor« eingelegt hat, bevor er sich dem
australischen Kontinent zuwandte.
Gleich nach der Erstbeschreibung entbrannte unter den Anhängern unterschiedlicher Naturphilosophien ein jahrzehntelang anhaltender
Streit über die richtige systematische und phylogenetische Einordnung des Schnabeltiers. Der französische Botaniker und Zoologe
Jean Baptiste de Lamarck (1744–1829) stellte dabei allerdings keine – wie von Kutschera betont – scharfsinnigeren Hypothesen als
andere Naturforscher auf. Für seine Transformationstheorie, die eine Stufenleiter der Arten vom einfachen Einzeller bis hinauf
zum komplexen Menschen beinhaltete, suchte er dringend nach Übergangsformen. Da schien ihm das Schnabeltier bestens geeignet,
die Brücke zwischen zwei, durch eine tiefe Kluft getrennte Tierklassen, den Reptilien und den Säugetieren zu schlagen. Um seine
Transformationstheorie zu unterfüttern, bot es sich für Lamarck an, es in den Rang einer eigenen Klasse der Vorsäugetiere (Prototheria)
zu stellen. Sein Widersacher, der erheblich jüngere englische Naturforscher Richard Owen (1804–1892), der noch von separaten Schöpfungsakten
überzeugt war, hielt nichts von Übergangsformen und brachte (nicht weniger scharfsinnig) Argumente dafür vor, die Schnabeltiere zu einem
festem Bestandteil der Klasse der Säugetiere machten. Unterstützung fand er durch den deutschen Anatom Johann
Friedrich Meckel (1781–1833), der 1824 feststellte, dass Schnabeltiere an der Bauchseite zwar keine Zitzen aber Milchdrüsen hatten4).
Es dauerte fast weitere 10 Jahre bis allgemein akzeptiert wurde, dass sie tatsächlich eine milchähnliche Flüssigkeit absonderten. Von
da an machte sich der Streit vorrangig daran fest, ob sie lebendgebärend oder eierlegend sind.
Für Owen war es ein ovoviviparer Säuger, d.h. es produzierte zwar Eier war aber definitiv lebendgebärend. Anderslautende Berichte über
in Nestern gefundene Eier erklärte er damit, dass sie auf Frühgeburten von erschreckten Weibchen zurückzuführen seien. Endgültig entschieden
wurde der Streit von dem Embryologen William Caldwell, der 1884 an den Ufern des Burnett Rivers in Queensland Jagd auf Schnabeltiere machte,
um das Jahrhundertmysterium zu lösen. Es gelang ihm, ein trächtiges Exemplar zu schießen, das kurz zuvor ein Ei gelegt hatte und in dessen
Uterusmund sich noch ein weiteres befand. Sein berühmt gewordenes Telegramm erreichte Englands führende Naturforscher am 2. September 1884
in Montreal. Dort tagte erstmals außerhalb Europas die Britische Zoologische Gesellschaft. Der Inhalt bestand aus vier klassisch gewordenen
Worten: »Monotremes oviparous, ovum meroblastic« (Kloakentiere eierlegend, Ei weichschalig). Nachdem der Präsident das Telegramm verlesen
hatte, erklärte er euphorisch, dies sei die bedeutendste wissenschaftliche Nachricht, die je durch ein Unterseekabel geleitet worden sei5).
Bitter für den alten Owen, dessen jahrzehntelange Dominanz über die Erforschung der Tierwelt Australiens mit dieser Niederlage beendet war.
Die Bezeichnung des längst verstorbenen Lamarcks Prototheria (Vorsäugetiere) hatte sich damit als tendenziell richtig erwiesen: Die Schnabeltiere
schienen tatsächlich über eine Merkmalskombination zur verfügen, die sie zu einer Art ›connecting link‹ zwischen Reptilien und Säuger machten.
Sieht man genauer hin, dann ging die Geschichte für den Naturtheologen Owen doch nicht ganz so schlecht aus. Seine Auffassung, dass Schnabeltiere
lebendgebärend sind, hatte sich zwar als falsch erwiesen, da sie aber über hochgradig spezialisierte morphologische und physiologische Merkmale
verfügten, konnten sie keine eigentlichen Ahnen der Säugetiere sein. (Z. B. war ihr dichtes, weiches Fell in Sachen Wärmedämmung jedem anderen
Säugetier überlegen, was zu Beginn des 20. Jahrhundert fast zu ihrer Ausrottung geführt hätte.) Die Systematiker haben sie daher nicht in die von
Lamarck aufgestellte Klasse der Prototheria erhoben, sondern sie eher im Sinne Owens zu einer Unterklasse herabgestuft, die zusammen mit den
Unterklassen der Beutel- und Plazentatiere die Klasse der Säugetiere bildet. In der Unterklasse der Prototheria bilden die Schnabeltiere zusammen
mit den nahe verwandten und ebenfalls eierlegenden Ameisen- oder Schnabeligeln die (einzige) Ordnung der Kloakentiere (Monotremata, griech. für
Tiere mit ›einer Öffnung‹). Die von Kutschera verbreitete Darstellung, dass Lamarck recht behalten hat, ist also falsch oder doch zumindest genauso
irreführend, wie der vom ihm gewählte Begriff »Bauplan-Mischform«, den er nicht als ausgefallene Merkmalskombination, sondern wie Lamarck
als ›urtümliche Zwischenform‹ oder gar ›primitives Relikt aus der Frühzeit der Säugtierevolution‹ interpretiert wissen will. Für Australiens
führenden Monotremata-Experten Mervyn Griffiths sind Schnabeltiere weit davon entfernt, »altertümliche« oder gar »primitive Übergangsformen« zu sein.
Er bezeichnet sie als »animals of all time«, die sich schon früh vom Mainstream verabschiedet haben und aktiv und ausgesprochen erfolgreich ihre
eigenen Wege gegangen sind.
Kutscheras wissenschaftsgeschichtliches Denken besteht darin, den Naturforschern nach seinem Gutdünken rückblickend Recht oder Unrecht zu geben.
Er nimmt dabei in Kauf, die Geschichte der Entdeckung der Schnabeltiere und die Konflikte um ihre Beschreibung und Klassifizierung auf irreführende
Weise zu verkürzen. Er kapiert einfach nicht, dass man Standpunkte in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nur vor den jeweils dahinterstehenden
Theorien oder Naturphilosophien betrachten und bewerten kann. Und weil er das nicht kapiert, ist derselbe Lamarck für ihn dort, wo er scheinbar Recht
behalten hat »scharfsinnig«, während er dort, wo er scheinbar nicht Recht behalten hat, nämlich bei seiner 150 Jahre lang von den Darwinisten mit
großer Penetranz verunglimpften Lehre von der Vererbung erworbener Merkmale »hypothetisch« oder »widerlegt« ist. Diese ahistorische Art
Wissenschaftsgeschichte zu betreiben, ist stark vom Zeitgeist abhängig. Ihre Urteile sind daher vergänglich und mit einem Verfallsdatum versehen.
Die Beurteilung der Lamarckschen Leistungen ist dafür ein anschauliches Beispiel. Während seine Vorstellung von der Vererbung erworbener Merkmale
durch die Entdeckung der epigenetischen Vererbung eine regelrechte Renaissance erfährt, ist die Brückenfunktion, die Lamarck dem Schnabeltier zuordnen
wollte, aufgrund der vielen festgestellten spezialisierten und konvergenten Merkmale derzeit ziemlich out. Nur der Evolutionist Kutschera ist so fest
in seinem evolutionären Glauben befangen, dass er diese Entwicklungen nicht angemessen erfassen und auch noch in den komplexen Ergebnissen der
Genomanalyse nicht mehr als eine Bestätigung der Lamarckschen »Proto-Mammalia-Hypothese« sehen kann.
Wenden wir uns nun der Evolutionsgeschichte
der Schnabeltiere zu. Die seltsame Mischung aus Reptilien- und Säugetiermerkmalen deutet zwar auf eine lange Evolution von vielleicht 180 Millionen
Jahren hin; sie liegt aber ziemlich im Dunkeln, da es keine gesicherten Erkenntnisse über die phylogenetische Diversifizierung der Monotrematen und
ihre Abspaltung von den frühen Reptilsäugern gibt. Die Gründe dafür, sind in ihrer einzigartigen Merkmalskombination und im spärlichen Fossilbefund
zu suchen. Zudem sind im Fossilbericht von Säugern meistens nur die Zähne und Kiefernknochen überliefert. Die haben bei Schnabeltieren aber nur eine
begrenzte Aussagekraft, weil erwachsene Tiere zahnlos sind und nur die Jungtiere Zähne haben. Einige interessante Entdeckungen gibt es
aber (vgl. Griffiths 1988): In einer 15 Millionen Jahre alten tertiären Ablagerung wurde ein wunderbar erhaltener Schädel gefunden, dessen Kiefer
noch mit Zähnen bestückt war. Dieser Schnabeltiervorfahr (Obdurodon dicksomni) war auch noch als erwach senes Tier bezahnt. 1985 wurde in einer
110 Millionen Jahre alten kreidezeitlichen Schicht ein Unterkieferstück mit drei Molaren gefunden. Dieser frühe Vorfahr des
Schnabeltieres (Steropodon galmani) hatte schon zusammen mit den Dinosauriern gelebt. Dies wurde 1999 durch den Fund eines bezahnten
Unterkiefers eines weiteren Schnabeltier-Urahns (Teinolophos trusleri) in einer etwas älteren Schicht bestätigt. Völlig unerwartet, konnte
bei der computertomographischen Untersuchung des versteinerten Kieferknochens ein für die Wahrnehmung elektrischer Felder erforderlicher
Nervenkanal identifiziert werden (Rowe et al. 2008). Die hochspezialisierten Merkmale der Schnabeltiere waren offenbar schon in der Kreidezeit
vorhanden. Ihre Evolution war völlig anders verlaufen, als die der Beutel- und Plazentatiere, die sich zwar zu Beginn der Kreidezeit aufspalteten,
deren Radiation und Spezialisierung aber erst im Tertiär erfolgte.
Evolution der Säugetiere, Reptilien und Vögel sowie Hervortreten von Eigenschaften in der Säugetier-Linie, aus: Warren et al. (2008)
Wie wird Evolutionsgeschichte der Schnabeltiere bei Kutschera beschrieben? Bei ihm lesen wir: »Die Reptilsäuger der Trias-Periode« [...] stehen
am Anfang der Evolution der Mammalia [...]. Diese Abstammungsfolge lief vor mindestens 166 Mio. J. (späte Juraperiode) auseinander. Eine Linie
evolvierte zu den lebendgebärenden Marsupalia und den Placentalia (Beutel- und Placenta-Säuger); die zweite evolutionäre Generationen-Reihe
führte zu den Monotrematen (Eier legende, urtümliche Säuger, die als Kloakentiere bezeichnet werden).« Er schwadroniert in Siebenmeilenstiefeln
über die dünne Befundlage hinweg und wird nur bei der Datierung der Abspaltung, die er aus der Genomstudie von Warren et al. (2008) übernommen hat,
erstaunlich konkret. Schaut man dort nach, liest sich das erheblich vorsichtiger: ›Die Abspaltung der Kloaken- von den Beutel- und Plazentatieren
fällt in eine große Lücke zwischen der Radiation der Säugetiere und deren Abspaltung von der Sauropsiden-Linie. Die Schätzungen reichen von 160
bis 210 Mio. J. vor heute. Wir gehen auf aufgrund von fossilen und den aktuell sequenzierten molekularen Daten von 166 Mio. J. aus.‹6) In seinem
Lehrbuch »Evolutionsbiologie« (2006) führt Kutschera übrigens ohne Literaturbezug ein Abspaltungsalter von 210 Millionen Jahren an, bewegt sich
also, ohne dies zu begründen, am obersten Rand der Schätzungen. Eine ähnliche Willkür zeigt er bei der Datierung der frühen Säugetiere. In der
Genomstudie wird die Entstehung von säugtierähnlichen Reptilien (Therapsiden) ins frühe Perm verortet. Kutschera verlagert sie hier, ohne dies
weiter zu erläutern, mit Bezug auf eine andere Quelle in die Trias-Periode.
Das Schnabeltier ist auch über 200 Jahre nach seiner wissenschaftlichen Entdeckung alles andere als ein Beweis dafür, dass » Evolution eine
Tatsache ist«. Die Entzifferung seines Erbgutes mag zwar ein Meilenstein für das bessere Verständnis der Schnabeltierevolution sein, hat
aber die Probleme nicht gelöst, sondern eher noch verschärft. Völlig unerwartet war z. B., dass das Gift in seinem Sporn keine › Mitgift‹
der Reptilien ist, sondern unabhängig davon evolviert ist ( Brown 2008). Und ein vor wenigen Jahren entdeckter, fossiler Schädel eines
Schnabeltier-Urahns deutet sogar daraufhin, dass selbst die komplexen, für das scharfe Gehör von Säugetieren so typischen Gehörknöchelchen
eine konvergente Erscheinung sind – also zwei Mal erfunden wurden (Rich et al. 2005). Stellt sich die Frage, welcher evolutive Mechanismus
die im Schnabeltier konzentrierten Unwahrscheinlichkeiten plausibel machen kann? Fangen wir bei Darwin an. Für ihn war das Schnabeltier der
Schlüssel für das Prinzip der evolutionären Anpassung in Isolation. In seinem berühmten Werk » Die Entstehung der Arten« versucht er, das
Schnabeltier, das für ihn ein » lebendes Fossil« war, durch die lange Isolation des australischen Kontinents und den verminderten Wettbewerb
in Süßwasserhabitaten zu erklären. » Lange Isolation« vielleicht, » lebendes Fossil« sicher nicht und » verminderter Wettbewerb« eher fraglich.
Gerade Süßwasserbecken gelten heute als » Inseln der Evolution«, ja als ein Musterbeispiel für explosive Artbildung – und dass konnte Darwin
zu seiner Zeit wirklich nicht wissen.
Kommen wir nun zu unserem Protagonisten Kutschera zurück und schauen, ob er 150 Jahre später neue Erklärungen für die Evolution der Schnabeltiere
anzubieten hat? Auf 3sat-online
lesen wir in diesem Zusammenhang: »Der Mensch kann sich gar nicht vorstellen, was mehr als zwei Milliarden Jahre
Zeit für die Evolution bedeuten. Selbst kleine Schritte führen weit, wenn nur genug davon gegangen werden - und Jahrmilliarden reichen bei
geringsten Wahrscheinlichkeiten.« Erstaunlicherweise sind – wie schon bei Darwin – die unendlich langen Zeiträume auch heute noch die Helden
der Arbeit, die das Wunder der Evolution vollbringen sollen. Und wenn sich unsere Vorstellungskraft dem verweigert, so liegt das nicht an der
Unschärfe dieser Argumentation, sondern an unserem Unvermögen, in Jahrmilliarden zu denken. Merke: Nur die Evolutionisten sind auserkoren, die
Äonen mühelos zu durchschreiten! Und so erstaunt es nicht, dass sich auch Darwins Hypothese vom »verminderten Wettbewerb« in Kutscheras aktuellem
Werk als »verborgene amphibisch-räuberische Lebensweise des nachtaktiven Schnabeltiers« wiederfindet. Diese »speziellen Lebensbedingungen« sollen
für das Überleben »dieses letzten Nachkommen einer ›primitiven‹, uns heute fremdartig erscheinenden Reptil-Vogel-Säugergruppe« verantwortlich sein.
Da kann man nur hinzufügen, das Schnabeltier ist weit davon entfernt, ein ›primitives Überbleibsel‹ einer vergangenen Epoche zu sein. Als anpassungsfähiger
Überlebenskünstler ist es vielmehr ein »animal of all time«. Darüber hinaus »erscheint« es nicht nur »fremdartig«, sondern gerade aus der Perspektive eines
Evolutionsbiologen ist es auch »fremdartig«. Einzige Ausnahme der Evolutionist Kutschera! Der glaubt offenbar so felsenfest an die »Tatsache Evolution«, dass
er selbst eine schwerverdauliche Anomalie in einen vollkommenen Beweis verwandeln kann – ein Mysterium, das ansonsten nur von fundamentalistischen
Religionsführern bekannt ist.
Nachbemerkung I
Dies ist keine gute Geschichte für Kutschera, weil sie wiedereinmal zeigt, dass seine Methode darin besteht, lückenhaftes Hypothesenwissen als belastbares
Faktenwissen zu präsentieren. Zumindest den wissenschaftsgläubigen Leser führt er damit an der Nase herum und vermittelt ihm ein völlig falsches Bild davon,
wie in der Wissenschaft um die Wahrheitsfindung gerungen wird. Dies ist aber auch keine gute Geschichte für die Wissenschaft, weil sich in der Erforschung
des Schnabeltiers ihre imperialistische Arroganz gegenüber einer kolonialen Natur und den ›einfachen‹ Menschen zeigt.
Tausende von Schnabeltieren und Schnabeligeln mussten sterben, um die Begierde von Wissenschaftlern zu befriedigen, sie bis ins kleinste Embryonalstadium zu
beschreiben oder auch nur, um ihnen das Geheimnis ihrer Geburt zu entreißen. Dabei war z. B. die Frage, ob sie lebendgebärend oder eierlegend sind, schon
gelöst, bevor das von europäischen Naturforschern initiierte Schlachten überhaupt begonnen hatte. Die Aborigines hatten jedem Forscher, der sie danach
fragte, versichert, dass Schnabeltiere eierlegend seien und auch Hobbyforscher unter den Kolonisten hatten dies immer wieder bestätigt.
So berichtete ein australischer Arzt im Jahre 1864 in einem Schreiben an europäische Naturforscher, dass ein in Gefangenschaft gehaltenes Schnabeltier
zwei Eier gelegt habe. Kommentar des berühmten englischen Anatomen Owen: Die Eier seien in Folge des Gefangenschaftsstresses zu früh
abgegangen! (vgl. Rismiller et al. 1991). Erst 20 Jahre später war es dem schottischen Embryologen Caldwell vorbehalten, das vermeintliche Rätsel
durch ein Massaker an trächtigen Schnabeltieren offiziell zu lösen7). Dabei hätte man gegen seine Beobachtung den gleichen Einwand vorbringen können,
da das entscheidende Tier sicherlich unter Jagdstress stand8).
Weil einheimische Kolonisten sich als unfähig erwiesen, die scheuen Tiere aufzuspüren, wurden von den europäischen Forschern ganze Armeen von Aborigines
angeheuert, damit sie gegen Kopfprämie (für Weibchen gab es mehr) Jagd auf die verborgen lebenden Monotrematen machten. Ihr Wissen über die von ihnen
als Mallangong oder auch Boondaburra bezeichneten Tiere wurde aber ignoriert. Diese Arroganz war Teil der generellen Einstellung der europäischen
Wissenschaftler gegenüber dem kolonisierten Kontinent. Australien und seine bizarre Tierwelt wurden als eine ›zoologische Strafkolonie‹, ja als
ein ›faunaler Gulag‹ betrachtet, in dem alles gegensätzlich und sonderbar war (Moyal 2001).
Jagende Aborigines – die europäischen Naturforscher waren nicht an ihrem Wissen über Schnabeltiere interessiert, sondern nur an ihrer Fähigkeit, sie aufzuspüren.
John Washington Price, der Schiffsarzt auf einem Segler war, der irische Rebellen in die britische Strafkolonie Neuholland (die damalige Bezeichnung für
Australien) brachte, vertraute die eurozentristische Sicht auf die Tierwelt Australiens 1799 seinem Tagebuch an: ›Wenn wir die verschiedenen Regionen der
Erde betrachten, so finden wir, dass die lebhaftesten und nützlichsten Vierbeiner um den Menschen geschart wurden. Es sind die entfernten Einöden der Welt,
in welchen wir die hilflosen, deformierten und monströsen Werke der Natur zu suchen haben.‹
Nach Auffassung des amerikanischen Paläontologen Stephan Jay Gould (1989) lebt die eurozentrische Vorstellung, dass Plazentatiere den Kloaken- und
Beuteltieren anatomisch und physiologisch überlegen sind, in der Wissenschaft weiter. In seinem »Lob der Beuteltiere« zeigt er, dass sie sich in
der Taxonomie niedergeschlagen hat: Die eierlegenden Kloakentiere werden als Prototheria oder Vorsäugetiere bezeichnet, die armen Beuteltiere als
Metatheria oder halbe Säugetiere und die Plazentatiere nehmen als Eutheria oder wirkliche Säugetiere die höchste Rangstufe ein.
Nachbemerkung II
Es ist zu befürchten, dass Kutschera selbst nach der Lektüre der hier erzählten Geschichte immer noch nicht kapieren würde, dass auch die
Wahrnehmung und Theoriebildung eines noch so modernen und rational im Feld oder Labor arbeitenden Naturwissenschaftlers (wie vor allem er selber)
von Naturphilosophien beeinflusst ist. Vielleicht stimmt ihn aber nachstehende Anekdote nachdenklich:
Bei meinen Recherchen bin auch auf einen Artikel aufmerksam geworden, in dem Folgendes berichtet wurde: Auf der vor der Südostküste Australiens
gelegenen Kängeru-Insel (»Kangaroo-Island«) gäbe es Schnabeltiere, die sich nicht nur im Süßwasser aufhalten, sondern auch im Meer auf Nahrungssuche
gehen würden. Erstaunlicherweise wird diese gut dokumentierte Beobachtung mit keinem Wort in der gesamten anderen, mir bekannten Fach- und auch
populärwissenschaftlichen Literatur erwähnt.
Warum also gerade in diesem Bericht? Des Rätsels Lösung: Der Autor war Kreationist! Ihm lag daran, glaubhaft zu machen, dass Schnabeltiere
aufgrund ihrer Salzwasserverträglichkeit durchaus in der Lage waren, den Weg von der auf dem Berg Ararat gestrandeten Arche Noah bis ins
abgelegene Australien zu bewältigen. Mag uns der ›Genesis-Kontext‹ auch noch so absurd erscheinen, so beeinträchtigt er doch nicht die Wahrheit
dieser Beobachtung. Ein gelungenes Beispiel für das, was in Lehrbüchern als Unabhängigkeit des »context of discovery« vom »context of
justification« beschrieben wird!
Anmerkungen
1) Einem Kirchenlehrer des 13. Jahrhundert sei dies verziehen, obwohl er es auch damals schon – dank Platos Höhlengleichnis – hätte besser wissen können.
Einem Evolutionsbiologen des 21. Jahrhundert, der diese Auffassung immer noch verficht, sollte man allerdings seinen Etat kürzen und nahe legen, umgehend
die Erstsemestervorlesung »Einführung in die Wissenschaftstheorie« zu besuchen.
2) Da Kutschera bekanntlich ein gelernter Pflanzenphysiologe ist, sollte man ihm den »Bieberschwanz« nachsehen.
3) Shaw (1799) und Blumenbach (1800) standen für ihre Erstbeschreibung nur ein getrockneter Schnabeltierbalg zu Verfügung. Die erste
Beschreibung eines sezierten Schnabeltieres veröffentlichte 1802 der englische Anatom Sir Everard Home (1756–1832). Der ließ die Fachwelt
aufhorchen, weil er als erster feststellte, dass Schnabeltiere trotz ihres säugetiertypischen Haarkleides eine für eierlegende Reptilien
und Vögel typische Kloake besäßen.
4) Lamarcks französischer Kollege Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) bezweifelte die Existenz der von Meckel gefundenen
Milchdrüsen und behauptete, sie seien in Wirklichkeit Moschusdrüsen, deren Sekret dazu dienen könnte, Männchen anzulocken. Ironisierend
bemerkte er: »Wenn dies Milchdrüsen sein sollen, wo ist die Butter?« Das Schnabeltier sei daher – wie von Lamarck zu Recht vertreten – eine
Klasse für sich und nicht – wie von Owen behauptet – ein Säugetier. Da Frankreich zu Beginn der Auseinandersetzung mit England im Krieg lag,
wurde der Krieg von den Naturforschern quasi auf dem Papier weitergeführt.
5) Bedeutend auch für die Schnabeltiere, denn Tausende mussten ihr Leben lassen, bis das wissenschaftliche Mysterium endlich gelöst war.
Zoologie wurde wie der Naturhistoriker Wendt (1956) pointiert bemerkte, von den damaligen Naturforschern vor allem mit der Flinte betrieben.
Allein Caldwell soll mit seinen 150 einheimischen Helfern einige hundert Schnabeltiere erlegt haben bis es ihm am 24. August 1884 endlich
gelang, das entscheidende Weibchen zu finden. Darüber hinaus tötete sein Team in der gleichen Saison über 1.300 Schnabeligel (Echidna), um
lückenlose embryonale Stadien zu erhalten (Robin 2005).
6) Es wurde schon vielfach nachgewiesen, dass die Datierung von Ereignissen mit molekularen Uhren mit großen Unsicherheitsfaktoren verbunden
ist. Rowe et al. (2008) konnten dies eindrücklich an der Datierung der Aufspaltung der Monotremata, d. h. der Abspaltung der Schnabeltiere
von den Schnabeligeln (Echidna) zeigen. Die aus unterschiedlichen DNA- und Protein-Sequenzen abgeleiteten Schätzungen liegen zwischen 17 und
80 Millionen Jahren, wobei von den Molekulargenetikern jüngere Datierungen präferiert werden. Z. B. schätzen Warren et al. (2008) in ihrer a
ktuellen Genomstudie das Alter des letzten gemeinsamen Vorfahren der beiden Taxa auf 21 Millionen Jahre. Durch die computertomographische
Untersuchung eines fossilen Kiefernknochen konnten Rowe et al. aber zeigen, dass ein ausgestorbener Monotremat der Gattung Teinolophos bereits
über eine ausgeprägte Elektrosensivität verfügte, also der Schnabeltierlinie zuzurechnen ist. Das Alter der fossilführenden Schicht wurde auf
rund 120 Millionen Jahre datiert. Selbst die älteste Schätzung durch eine molekulare Uhr liegt folglich um 50 % zu niedrig.
7) Das Verhalten der europäischen Naturforscher gegenüber den australischen Hobbyforschern erinnert mich ein bisschen an den Streit um die
Entdeckung der Brutfürsorge bei Egeln. Die ruhmreiche Erstbeobachtung reklamiert Kutschera bis heute für sich, obwohl der pfiffige ostdeutsche
Vivarist Pederzani sie nachweislich sechs Jahre vor ihm gemacht und publiziert hat. Auch hier wurde hochnäsigst argumentiert, dass eine Beobachtung
erst dann als vertrauenswürdige Entdeckung gilt, wenn sie von einem ausgewiesenem Wissenschaftler gemacht wird. Diese Geschichte habe ich in aller
gebotener Ausführlichkeit an anderer Stelle erzählt.
8) Das dies nicht geschah, lag wohl vorrangig daran, dass der Kreationist Owen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein verblassender Stern am
wissenschaftlichen Himmel war, während der Darwinist Caldwell die naturgeschichtliche Weltanschauung vertrat, die damals im Aufwind war. Und
so konnte er (wie einst Owen und heute Kutschera...) in seinen Vorträgen erklären, seine Erkenntnisse seien keine Theorien, sondern Tatsachen
und könnten daher nicht in Frage gestellt werden.
Literatur
Brown, Susan (2008): »Top billing for platypus at end of evolution tree - Monotreme’s genome shares feature with mammals, birds and
reptiles«. – In: Nature 453, 138-139
Gould, Stephan J. (1989): »Der Daumen des Panda – Betrachtungen zur Naturgeschichte«. – Hamburg
Griffiths, Mervyn (1988): »Das Schnabeltier«. – In: Spektrum der Wissenschaft, H. 7, 76-83
Kutschera, Ulrich (2006): »Evolutionsbiologie«. – Stuttgart
Kutschera, Ulrich (2009): »Tatsache Evolution - Was Darwin nicht wissen konnte«. – München
Moyal, Ann (2001): »Platypus – The extraordinary story of how a curios creature baffeld the world«. – Washington
Rich, Thomas et al. (2005): »Independent origins of middle ear bones in monotremes and therians«. – In: Science 307, 910-914
Rismiller, Peggy, D. (1995): »Australiens geheimnisvolle Echidna«. – In: Naturwissenschaften 82, 551-556
Rismiller, Peggy, D. u. Seymour, Roger S. (1991): »Fortpflanzung des australischen Ameisenigels«. – In: Spektrum der Wissenschaft, H. 4, 96-103
Robin, Libby (2005): »The platypus frontier: eggs, Aborigines and empire in 19th century Queensland«. – In: Rose, Deborah Bird (Hg.): »Dislocating the frontier: essaying the mystique outback«. – Canberra
Rowe, Thomas et al. (2008): »The oldest platypus and ist bearing on divergence timing of the platypus and echidna clades«. In: PNAS, 1238-1242
Warren, Wesley C. et al. (2008): »Genome analysis of the platypus reveals unique signatures of Evolution«. – In: Nature 453, 175-184
Wendt, Herbert (1956): »Auf Noahs Spuren – Die Entdeckung der Tiere«. – Hamm
G. M., 10.03.2009
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Kein lebendes Tier hat die Wissenschaft seit seiner Entdeckung so irritiert wie das Schnabeltier. Dies spiegelt sich
auch in seinen Bezeichnungen wider: Alptraum der Zoologen, biologisches Kuriosum, Laune der Natur, Wechselbalg oder
Unfall der Evolution, einzigartiges Zwitterwesen, bizarre Melange, Ergebnis eines promiskuitiven Verkehrs, fleischgewordene
Wollmilchsau oder australischer Wolpertinger.
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›Den Elefanten zu wenig Zähne gemacht‹
Manimali, Guido Danielle
Darwin war eher ein zauderhafter, dezenter Revolutionär, der jeder direkten und lautstarken Konfrontation mit der Kirche aus dem Weg gegangen ist.
Wenn er noch leben würde, hätte er sicherlich wenig Verständnis für herumpolternde Berufsatheisten, die meinen, sich damit profilieren zu müssen,
in seinem Namen den Glauben lächerlich zu machen oder auf Gläubige einzudreschen. Auch dem Kassler Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera, der sich
durch sein »unangenehm aggressives« (FAZ) Verhalten gegenüber Kreationisten eine gewisse Popularität verschafft hat, scheint Darwins umsichtiges
Vorgehen ein Dorn im Auge zu sein. In seinem neusten Werk »Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen konnte« glaubt er, den Grund dafür gefunden
zu haben, warum Darwin sich bezüglich der theologischen Implikationen seiner naturalistischen Zufallstheorie so erstaunlich zurückhaltend und
diplomatisch verhalten hat. Zu Beginn seiner Argumentation zitiert Kutschera eine bekannte Passage aus einem Brief, den Darwin im Jahr 1860, also
ein Jahr nach dem Erscheinen seines berühmten Werkes über die Entstehung der Arten, an den amerikanischen Botaniker Asa Gray geschrieben hatte:
»Ich kann mich nicht dazu überreden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott mit Absicht die Schlupfwespen erschaffen haben würde mit dem
ausdrücklichen Auftrag, sich im Körper lebender Raupen zu ernähren, oder das Katzen mit Mäusen spielen sollen. Da ich nicht daran glaube,
sehe ich auch keine Notwendigkeit in dem Glauben, dass das Auge bewusst geplant worden ist. Andererseits kann ich mich keineswegs damit
abfinden, dieses wunderbare Universum und insbesondere die Natur des Menschen zu betrachten und zu folgern, dass das alles nur das Ergebnis
roher Kräfte sei. Ich neige dazu, alles als Resultat vorbestimmter Gesetze aufzufassen, wobei die Einzelheiten, ob gut oder schlecht, dem
Wirken dessen überlassen bleiben, was wir Zufall nennen können.«
Darwin legt hier nüchtern und plausibel dar, dass das Bild eines gütigen und allmächtigen Schöpfers, der die Welt bis ins kleinste Detail
plant, nur schwer mit den kaum übersehbaren Grausamkeiten in der Natur in Übereinstimmung zu bringen ist. Er nimmt dies allerdings nicht
zum Anlass, die Existenz eines wohlmeinenden Schöpfers an sich zu verneinen, sondern rückt ihn vom Zentrum des aktuellen Naturgeschehens
an dessen Ursprung. Dort fungiert er als Begründer von Naturgesetzen, während die Ausformung der konkreten Naturzustände (also z. B. der Arten
und ihrer Interaktionen) weniger vorher- als zufallsbestimmt ist1). Eine solche Haltung ist für Evolutionsbiologen, die ihre Disziplin als Mittel
zur Erlangung einer erfüllenden Weltanschauung und sogar letztgültigen ideologischen Meinungsführerschaft betrachten, nicht konsequent zu Ende
gedacht, ja unerträglich. Dies gilt im besonderen Maße für unseren Akteur Kutschera, der sich in fetten Lettern auf seine Fahnen geschrieben hat,
dass in dieser Welt kein Platz für Götter, Geister und Designer ist. Er meint Darwins nachsichtigen Umgang mit dem Glauben damit erklären zu können,
dass ihm das ganze Ausmaß der Unvollkommenheit und Grausamkeit des Naturgeschehens nicht bewusst war:
»Ein wesentlich eindrucksvolleres Beispiel für die unglaublichen Grausamkeiten in der Natur liefern jedoch die Afrikanischen und Asiatischen Elefanten.
Diese Dickhäuter, die über ein außergewöhnlich großes Gehirn verfügen, empfinden beim Tod verwandter und fremder Artgenossen Trauer. Elefanten leiden
im menschlichen Sinne und verfügen möglicherweise sogar über ein Todesbewusstsein, da auch verstorbene, in der Verwesung befindliche Körper von Artgenossen
besucht werden. Besonders grausam ist der natürliche Tod der Alttiere. Nachdem die letzten Mahlzähne (Molaren) dieser durch lange Stoßzähne gekennzeichneten
Dickhäuter abgerieben sind (Zahnschmelz-Verbrauch), verhungern die Tiere nach und nach, da sie ihre Nahrung nicht mehr kauen können. Diese intelligenten Trauer
und Schmerz empfindenden Großsäuger sterben somit einen langsamen, qualvollen Hungertod (…). Diese Ausführungen zu Leiden und Tod der Dickhäuter sollen
das ›Darwinsche Gleichnis‹ vom grausamen, aber dennoch angeblich ›allmächtigen Schöpfer-Gott bzw. Designer‹ ergänzen. Hätte Darwin vom langsamen Hungertod
der Elefanten, der auf ›un-intelligentes Zahn-Design‹ zurückführbar ist, gewusst, so wären seine negativen Bemerkungen zum ›guten biblischen Gott‹
vermutlich noch drastischer ausgefallen.«
Ist es Kutschera hier wirklich gelungen, dem biblischen Schöpfergott die Maske vom Gesicht zu reißen und ihn als stümperhaften und seelisch grausamen
Designer zu entlarven? Betrachten wir zunächst die Frage, ob Elefanten im menschlichen Sinne trauern können. Der renommierte Gießener Literaturwissenschaftler
Erwin Leibfried (2009) hat Kutscheras Ausführungen erfrischend kommentiert. Er stellt zunächst fest, dass der »Ursprung der menschlichen Emotionen« zu
den »Problemzonen der Evolutionstheorie« gehört. Es gäbe zwar »Vorformen von Sprache«, man gerate aber in »windige Regionen«, wenn man »die qualitative Differenz
zwischen Mensch und Tier einebnet« und wie Kutschera »mitleidende Sorge bei Elefanten als Faktum« konstatiert. Hier seien »bei entsprechender Kreativität und
Sachkenntnis, andere Interpretationen möglich. Der Elefant als Herdentier ›kümmert‹ sich um die Angehörigen seiner Horde, das hat er als Instinkt, er hat
aber kein Mitleid«. Ironisierend fügt er hinzu: »Er verhält sich wie weiland die Genossen in der ruhmreichen DDR: keinen zurücklassen, alle mitnehmen, war
da einmal die Devise bei der bei der Verwirklichung des Sozialismus. Solche Beschreibungen unterliegen wissenschaftstheoretisch einem uralten, gut
bekannten Topos: der Anthropomorphisierung. Was im Hirn dieses Viehzeugs vorgeht, bleibt vorderhand ignotum.«
Da es niemanden möglich ist, sich in ein Elefantenhirn zu versetzen, schließt auch Leibfried die Existenz der menschlichen Emotion »mitleidende Sorge« bei
Elefanten nicht kategorisch aus. Er warnt aber Naturwissenschaftlicher davor, bei der Beobachtung und Interpretation tierischer Verhaltensweisen die emotionale
Distanz zu den Untersuchungsobjekten zu verlieren. Beachten sie dies nicht, laufen sie Gefahr, nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche
Verhaltensmuster unreflektiert auf tierisches Verhalten zu projizieren. Kutscheras von Empörung getragene Darstellung der vermeintlich »unglaublichen Grausamkeiten«
im Elefantendesign ist ein anschauliches Beispiel dafür. Sie erweckt Passagenweise den Eindruck, als wenn er selbst in die Rolle eines dahinsiechenden Elefanten
geschlüpft wäre, der keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann und Kondolenzbesuche seiner trauernden Herde empfängt. Und vor allem diese Überidentifizierung motiviert
ihn, einen für Elefanten typischen Verschleißschaden in einen gravierenden und in Zusammenhang mit der Intelligenz von Elefanten besonders grausamen Designfehler
umzuinterpretieren und als schwerwiegenden Befund gegen die Existenz eines gütigen und allmächtigen Schöpfergottes ins Feld zu führen.
Versuchen wir die Angelegenheit einmal nüchterner zu betrachten: Elefanten gehören neben den Menschen zu den Landsäugern mit der höchsten Lebenserwartung.
Sie müssen kein anderes Tier fürchten, sind ausgesprochen intelligent und führen ein entwickeltes soziales Herdenleben. Wegen ihrer enormen Größe verfügen sie
über einige ausgeklügelte anatomische Besonderheiten, die ihnen beispielsweise ermöglichen, zu schwimmen, ohne dass ihre Lungen kollabieren oder sich trotz ihres
kolossalen Gewichtes in sumpfigem Gelände zu bewegen. Kurz: Elefanten bestechen durch hervorragendes Design und sind alles anderes als ein überzeugendes Beispiel
für schlechtes Design. Dies gilt auch für ihre Backenzähne, die sich während eines langen Elefantenlebens bis zu sechs Mal erneuern. Wenn es überhaupt etwas zu
bemängeln gibt, dann ist es ihre schlechte Futterverwertung. Sie zwingt die Elefanten dazu, täglich riesige Mengen Pflanzennahrung aufzunehmen und zu zerkleinern.
Sie ist folglich ursächlich dafür verantwortlich, dass der vorzeitige Verschleiß der Mahlzähne zu einem lebensbegrenzenden Faktor für Elefanten werden kann. Allerdings
verhungern erheblich mehr Elefanten an Nahrungsknappheit als an der Unfähigkeit Pflanzen zu zerkleinern. Die Ursache dafür liegt neben Dürren an ihren verschwenderischen
Ernährungsgewohnheiten, die oft zur Verwüstung ganzer Wälder führt.
Wenn bei einem alten Elefanten, der von anderen Todesursachen verschont geblieben ist, der letzte Mahlzahn weitestgehend abgenutzt ist, zieht er sich manchmal an Orte
wie z. B. Sümpfen zurück, wo ihm weichere Pflanzennahrung zur Verfügung steht2). Auch dort kann er aber nicht dauerhaft dem Verhungern entgehen, weil er selbst weiches
Grünfutter nach der völligen Abnutzung seiner Molaren nicht mehr zerkleinern und verdauen kann. Der immer schwächer werdende Elefant wird an seinem Sterbeort von der
eigenen Herde, aber auch von fremden Herden aufgesucht. Dabei ist ein ganzes Spektrum von Verhaltensweisen zu beobachten: Die Elefanten versuchen ihren geschwächten
Artgenossen wieder aufzurichten, zu füttern und Raubtiere von ihm fernzuhalten. Wenn er dann verendet ist, decken sie ihn manchmal sogar mit Ästen, Steinen und Blättern
zu, weil es sie offenbar stört, wenn Löwen, Hyänen oder Geier sich an dem verwesenden Kadaver vergreifen. Dieses außergewöhnliche Verhalten kann nur schwer als von
der natürlichen Selektion begünstigte Umweltanpassung interpretiert werden, denn Elefanten laufen durch den Kontakt mit ihren dahinsiechenden oder verendeten Artgenossen
Gefahr, sich mit gefährlichen Krankheiten zu infizieren (vgl. Douglas-Hamilton et al. 2006). Man muss also davon ausgehen, dass Elefanten ein besonderes Bewusstsein für
kranke und tote Artgenossen haben, das in dieser Form bei anderen Tierarten bisher nicht beobachtet wurde3).
Da ein solches Bewusstsein bei uns Menschen viel stärker ausgeprägt ist, fragt sich, warum Kutschera nicht den Menschen als besonders eindrucksvolles Beispiel für
seelisch grausames Design angeführt hat? Laut seiner Argumentation wählt er den Elefanten, weil bei ihm ein schlechtes Altersdesign mit einem Bewusstsein kombiniert
ist, das mitleidende Sorge empfindet. Beides trifft aber in viel höherem Maße auf uns Menschen zu. Unsere Spezies leidet nicht nur an unzähligen Alterskrankheiten,
sondern ist aufgrund ihrer einzigartigen Intelligenz auch zu regelrechten Fürsorge- und Trauerexzessen fähig4). Warum also der Elefant und nicht der Mensch? Es ist
zu vermuten, dass Kutscheras Wahl weniger reflektiert als intuitiv erfolgte. Von dem Ziel besessen, den biblischen Schöpfergott der Unfähigkeit und Grausamkeit zu
überführen, wählt er den Elefanten, weil wir Menschen für das Leiden einer uns sympathisch erscheinenden Tierspezies oft mehr Mitgefühl als für das Leiden der eigenen
Art zeigen. Wenn es sich nicht gerade um ekelerregende Spinnen oder Würmer handelt, sind Tiere ein Sinnbild für die unschuldige Natur, während wir dazu neigen, uns eher
als eine dekadente Spezies zu betrachten, die diese unschuldige Natur bedroht und daher Bestrafung verdient. Für viele Menschen ist das Schicksal von
Tieren (selbst wenn sie ihnen persönlich nicht bekannt sind) eine angenehmere, d. h. mit weniger Widersprüchen behaftete Projektionsfläche für ihr Mitgefühl.5)
Kutschera appelliert aus gutem Grund mehr an unser Mitgefühl als an unseren Verstand. Rein logisch macht es wenig Sinn, ein vermeintlich schlechtes oder gar
grausames Design bei Lebewesen als Indiz gegen die Existenz eines (biblischen) Designers ins Feld zu führen. Vergänglichkeit gehört einfach mit zum Design
und Unvollkommenheit ist nur schlecht dingfest zu machen. Betrachten wir z. B. die Eintagsfliege, deren (Einweg-)Design auf dem ersten Blick gegenüber dem
Design des Menschen oder Elefanten wenig meisterhaft und lebenswert wirkt. Sie scheint das Pech zu haben, nicht zu den entwickelsten Säugetieren, sondern
zu den ursprünglichsten unter den Fluginsekten zu gehören. Ihre erwachsene Form (Imago) verfügt nicht einmal über richtige Mundwerkzeuge oder einen funktionsfähigen
Magen und wird nur wenige Minuten bis einige Tage alt. Ihr einzig erkennbarer Lebenssinn besteht darin, sich zu paaren und ziemlich bewusstseinslos Gene in die
nächste Generation zu transportieren. Aber ist sie deswegen schlecht designt? Selbst Kutschera müsste einräumen, dass sie nach seiner Logik im Vergleich zu Menschen
oder Elefanten, bei denen sich das Dahinsiechen in die Länge ziehen kann, zumindest über ein optimiertes Todesdesign verfügt. Und wie ist es um ihre Lebensqualität
bestellt? Ist sie wegen der sprichwörtlichen Kürze ihres irdischen Daseins ein bedauernswertes Lebewesen? Keinesfalls, wenn man Arne Bister’s Gedicht über das aus
anthropomorpher Sicht erstaunlich beneidenswerte Leben der Eintagsfliegen liest:
»Glücklich sind die Eintagsfliegen.
Woran mag denn das bloß liegen?
Wenn sich turtelnd zwei betören
und auf ewig Liebe schwören,
hält ihr Glück ihr Leben lang.
Glücklich sind die Eintagsfliegen,
weil sie niemals Heimweh kriegen,
denn sie fliegen nie weit fort
von dem angestammten Ort.
Fremd ist ihnen Reisedrang.
Glücklich sind die Eintagsfliegen,
weil sie sich ja nie bekriegen.
Will sich eine Fliege hauen,
rät man ihr ganz im Vertrauen,
bis zum nächsten Tag zu warten.
Ach, was wissen Eintagsfliegen
über Ströme, die versiegen,
über Meere, die verschwinden,
auch den Wandel in den Winden
und den Tod von vielen Arten?
Glücklich sind die Eintagsfliegen,
weil sie niemals sich verbiegen,
um wie and're Glück zu jagen,
die nach freudlos schweren Tagen
ihrem Leben erst erliegen.«
Drängt sich die Frage auf, ob wir mit den aus anthropomorpher Sicht beneidenswert glücklichen Eintagsfliegen das Ende der Fahnenstange erreicht haben?
Gibt es womöglich noch glückseligere Lebewesen als Eintagsfliegen? Wie ist es eigentlich um das ›Glücksdesign‹ von noch erheblich einfacher organisierten
Lebensformen wie Einzellern im Vergleich zu höher organisierten Lebewesen bestellt? Darüber hat sich der scharfsinnige Dichter Gottfried Benn (1886-1956)
schon vor knapp hundert Jahren melancholisch-regressive Gedanken gemacht:
»O dass wir unsere Urahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim im warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.«
Mit anderen Worten, jede Höherentwicklung, die über den Organisationsgrad eines Bakteriums oder einer Amöbe hinausgeht, ist zwangsläufig mit einer Zunahme
an Leiden oder – wie Kutschera es formulieren würde – unintelligenten und (seelisch) grausamen Design verbunden. So betrachtet, spricht die gesamte Evolution
jenseits des Einzellers gegen einen gütigen und allmächtigen Schöpfergott. Kutscheras massive Kritik am Elefantendesign ist ahnungslos und willkürlich, zumal
er gemäß seiner Argumentation den im besonderen Maße leidensfähigen (und leidverursachenden) Menschen als vorläufigen Höhepunkt misslungenen Designs hätte
anführen müssen. Darwin - den Kutschera posthum und von vermeintlich hoher Warte belehren und gegen den biblischen Schöpfergott aufstacheln möchte - hat
vernünftiger argumentiert: Erstens hat er nicht seine an einer Krankheit früh verstorbene Lieblingstochter als schweres Geschütz gegen den Glauben an einen gütigen und allmächtigen
Schöpfergott ins Feld geführt, sondern ganz nüchtern die bestialische Vermehrungspraxis eines Insektes6). Zweitens hat er deswegen nicht die Existenz eines
biblischen Schöpfergottes an sich in Frage gestellt, sondern daraus nur geschlossen, dass der die Welt nicht bis in kleinste Detail vorherbestimmt. Und
Drittens hat er damit sein Ziel erreicht, den biblischen Gott soweit aus der Welt heraushalten, dass er genügend Platz für seine Theorie von der
Wandelbarkeit (und eben nicht Schöpfung) der Arten hatte. Demgegenüber hat der selbsternannte Darwin-Experte Kutschera, der uns seit einigen Jahren in
marktschreierischer Manier ebenso kontextarme wie verworrene Geschichtsrevisionen präsentiert, wieder einmal nichts kapiert.
Anmerkungen
1) In der an das Zitat anschließenden (und von Kutschera ausgelassenen) Passage wird deutlich, dass Darwin sich bewusst ist, dass der menschliche
Intellekt angesichts der Dimension solcher Fragen an prinzipielle Grenzen stößt und keine zufriedenstellenden Antworten finden kann: »Nicht,
dass mich diese Einsicht im mindesten befriedigte. Ich fühlte zutiefst, dass das ganze Problem für den Intellekt des Menschen zu hoch ist. Ebensogut
könnte ein Hund über den Geist Newtons spekulieren. Jeder Mensch soll hoffen und glauben was er kann.« Darwin nimmt also keine – wie es die evolutionären
Ideologen vom Schlage Kutschera gerne sehen würden – atheistisch-fundamentalistische, sondern eine zurückhaltendere und einem reflektierten Geist angemessene
agnostisch-liberale Haltung ein. Er knüpft damit an einen wohltuenden Gedanken der antiken Skepsis an, nämlich wo immer es nötig ist, Urteilsenthaltung
zu üben (vgl. Leibfried 2009).
2) Dieses Verhalten hat auch den Mythos von sogenannten Elefantenfriedhöfen befördert, weil man an solchen Orten oft größere Mengen Knochen findet. Seinen
Ursprung hat der Mythos jedoch in den »Tausendundeine Nacht«-Geschichten von Sindbad dem Seefahrer. Der sah sich in seiner Zeit als Elfenbeinjäger eines
Morgens von wütenden Elefanten umringt, die ihn zu einen Hügel führten, der ganz mit Elefantenknochen und Elefantenzähnen bedeckt war. Sindbad zweifelte
nicht daran, dass es sich um einen Elefantenfriedhof handelte und dass die Elefanten ihn dort hingebracht hatten, um ihm zu zeigen, dass es keinen Grund gab,
Elefanten wegen ihrer Stoßzähne zu töten. Man musste sich an solchen Orten nur die Mühe machen, sie aufzuheben.
3) Trotz naheliegender Parallelen zu menschlichen Trauer- und Fürsorgeverhalten ist bezüglich der genauen Intention (oder Interpretation) tierischen Verhaltens
große Vorsicht angesagt. Es ist z. B. wiederholt beobachtet worden, dass Elefanten nicht nur tote Artgenossen, sondern auch Menschen, die von ihnen zuvor brutal
verletzt oder getötet wurden, mit Ästen zugedeckten (vgl. Meredith 2003).
4) Der Besuch einer Intensivstation oder eines Friedhofes sollte ausreichen, um sich davon zu überzeugen, dass das Fürsorge- und Trauerverhalten der Elefanten
gegenüber dem von uns Menschen maximal als rudimentär einzustufen ist.
5) Kutschera wird in seinen vielen Interviews nicht müde zu behaupten, dass wir Menschen »nur eine von Millionen Tierarten sind«. Hier sieht man, dass
er - wenn es um seine propagandistischen Zwecke geht - sehr gut zwischen Tieren und Menschen zu differenzieren weiß.
6) Das verzehrende Leiden seiner Lieblingstochter Annie, die 1851 im Alter von acht Jahren gestorben ist, ist ihm sicherlich erheblich näher gegangen,
als es die Kenntnis von Kutscheras einfältiger Geschichte über zahnlos dahinsiechende Elefanten jemals vermocht hätte. Ihr früher Tod war der
maßgebliche Auslöser dafür, dass Darwin sich vom konventionellen religiösen Glauben abwendete (vgl. Quammen 2008).
Literatur
Benn, Gottfried (1960): »Gesammelte Werke 1, Gedichte«. – Wiesbaden
Douglas-Hamilton, Ian, Bhalla, S., Wittemyer, G. & Vollrath, F. (2006): »Behavioural reactions of elephants towards a dying and deceased matriarch«. – In: Applied Animal Behaviour Science
Kutschera, Ulrich (2009): »Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen konnte«. – München
Leibfried, Erwin (2009): »Rezension: Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen konnte«. – In: Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Meredith, Martin ( 2003): »Der afrikanische Elefant«. – Kreuzlingen/München
Quammen, David (2008): »Charles Darwin – Der große Forscher und seine Theorie der Evolution«. – München
G. M., 28.04.2009
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Im Unterschied zu anderen Tieren haben Elefanten in jedem Kiefer sechs ›Sätze‹ von Backenzähnen, die satzweise von hinten her nachwachsen, sich
langsam nach vorne schieben und die alten vorne hinausdrücken, wenn diese abgenutzt sind:
»Den ersten Satz verlieren Elefanten, wenn sie etwas zwei Jahre alt sind; den zweiten etwa mit sechs Jahren, den dritten mit 15 Jahren, den
vierten mit etwa 28 Jahren, den fünften mit etwa 43 Jahren. Der sechste Satz Backenzähne entsteht, wenn die Tiere etwa 30 Jahre alt, und er
kommt in Gebrauch wenn der Elefant Anfang 40 ist. Der letzte Satz hält weitere 20 Jahre. Wenn er abgenutzt ist, können Elefanten ihre Nahrung
nicht mehr richtig aufnehmen und sterben.« (Meredith 2003)
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