Die Diplom-Biologin Sabine Schu ist offenbar eine selbstbewusste Nachwuchswissenschaftlerin. Als ich ihr anerkennend attestierte,
dass es ihr an »evolutionsbiologischen Sachverstand« nicht mangelt (und damit andeuten wollte, dass dies im Allgemeinen kein Zustand
ist, der sich in der wissenschaftlichen Laufbahn automatisch einstellt) antwortete sie mir schnippisch bis entrüstet: »Ich weiß nicht,
ob Dir das entgangen ist, aber ich *bin* Naturwissenschaftler. Ich weiß aus eigener Anschauung, aus eigener *Anwendung*, weil ich seit
Jahren in der Forschung arbeite, wie die wissenschaftliche Methode aussieht, *UND SIE FUNKTIONIERT*.« Wenn man bedenkt, dass Generationen
von Wissenschaftsphilosophen verbissen darüber gestritten haben (und immer noch streiten), wie und wie gut die wissenschaftliche Methode
funktioniert, kommt Schu’s methodischer Optimismus doch etwas unreflektiert daher. Man muss ja nicht so weit wie der Wissenschaftsphilosoph
Paul Feyerabend gehen, der pointiert formuliert hat, dass den wissenschaftlichen Fortschritt eine grausame Mischung aus Ehrgeiz, Konkurrenz
und echter Gehirnakrobatik vorantreibt, aber zu behaupten, dass bei der wissenschaftlichen Wahrheitssuche alles seinen geregelten Weg geht, ist
entweder naiv oder heuchlerisch1).
Schu macht keinen Hehl aus ihrem Motiv für ihren betont engen Schulterschluss mit der Wissenschaft: Sie fühlt sich (und ihren Berufsstand)
von der allgemeinen Wissenschaftsfeindlichkeit und Welle der religiös motivierten Evolutionskritik, die nach ihrer Einschätzung zunehmend von
Amerika nach Europa schwappt, persönlich beleidigt. Da kam es ihr gerade recht, dass ihr in 2007 die Mitgliedschaft in der AG Evolutionsbiologie, ein
von dem gelernten Pflanzenphysiologen Ulrich Kutschera geführtes akademisches Agitationsbündnis gegen
fachlich zunehmend versierter argumentierende deutsche Kreationisten, angetragen wurde. Schu willigte sichtlich bewegt ein: »Ich bin jetzt Mitglied in
der AG Evolutionsbiologie des VdBiol, ich bin ganz stolz«.2) Dass die AG Evolutionsbiologie auf sie aufmerksam wurde, verdankt sie maßgeblich
ihrem Weblog »Evil under the sun«. Der ist eine durchaus peppige Mischung aus fundierter bis
scholastischer evolutionsbiologischer Information, stereotypen bis burschikosem Kreationisten-Bashing und bissiger bis politisch korrekter Gesellschaftskritik.
In ihrem Blog, in dem sie »den Unterschied zwischen Wissenschaft und kompletten Bullshit«3), deutlich machen möchte,
nutzt sie jede Gelegenheit, die Fahne des Wissenschaftsbetriebs hochzuhalten. Ein solcher Anlass bot sich offenbar, als sie (vermutlich von
Martin Neukamm, dem umtriebigen Geschäftsführer der AG Evolutionsbiologie) auf meinen evolutionstheoriekritischen
Website-Beitrag »Von Korallen und Menschen« aufmerksam gemacht wurde.
Ich hatte den verblüffenden Befund, dass Korallen mehr gemeinsame Gene mit dem Menschen- als mit dem Fliegen- oder Fadenwurmgenom haben,
zum Anlass genommen, die herrschende Evolutionstheorie auf den Prüfstand zu stellen. Bisher hatte man bei einer Reihe von Genen, die zwar
bei höheren Wirbeltieren, wie z. B. Menschen aber nicht bei Insekten oder Fadenwürmern vorhanden sind, angenommen, dass sie erst im
Verlauf der Wirbeltierevolution entstanden sind. Jetzt wurde überraschend festgestellt, dass diese Gene bereits bei Korallen vorhanden
waren. Korallen sind ausgesprochen einfach gebaute tierische Organismen, die sich schon früh von der Entwicklungslinie, die zu höheren
Tieren führt, abgespalten haben. Daraus musste man schließen, dass diese Gene schon bei dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Korallen
und höheren Tieren, den Ureumetazoa(Urgewebetiere), vorhanden waren und bei Insekten und Fadenwürmern (die sich erst viel später von
der Linie, die zu Wirbeltieren führt, abgespalten haben) wieder verlorengegangen sind. Offenbar spielten Genverluste bei diesen
Modellinvertebraten eine viel größere Rolle als man bisher angenommen hatte. Diese Entdeckungen waren geeignet, die gesamte Theorie
von der Entwicklung des Erbguts höherer Tiere zu revolutionieren.
Die Ergebnisse wurden bestätigt durch die Untersuchung der Genausstattung der Seeanemone, einem Lebewesen, das wie die Korallen zum
Stamm der Nesseltiere (Cnidaria) gehört. Die morphologisch einfach gebaute Seeanemone gilt als lebendes Fossil, weil sie sich seit der
Abspaltung (vor 700 Millionen Jahren) von der Entwicklungslinie, die zu höheren Tieren führt, kaum verändert hat. Hier stellten die
Forscher fest, dass dieser urtümliche Organismus über einen kompletten Satz von Wnt-Genen verfügt. Das sind Gene, die bei höheren
Wirbeltieren die Organisation der Zelltypisierung während seiner komplexen Embryonalentwicklung steuern. Völlig unerwartet war die
Genausstattung für diesen Vorgang schon bei einem urtümlichen Lebewesen vorhanden, das einen so komplexen Organisator für seine
Konstruktion gar nicht benötigte. Die Wissenschaftler folgerten daraus, dass der Grundtypus des Bauplans tierischer Organismen nur
einmal ›erfunden‹ worden war, ohne allerdings erklären zu können, wie er evolviert wurde. Dies war ein harter Schlag für die
darwinistische Evolutionsbiologie, denn hier waren offenbar auf rätselhafte Weise, d. h. ohne erkennbaren Selektionswert komplexe
Genausstattungen evolviert und über Jahrmillionen erhalten geblieben.
Die Autoren der verschiedenen Studien waren sich sichtlich irritiert über die neuen Befunde, wie folgende Auszüge aus ihren Kommentare
eindrücklich belegen: »Unglaublich«, »Sensation«, »mehr als nur ein bißchen aufregend«, »wirklich atemberaubend«, »Zusammenhänge entdeckt,
die noch vor wenigen Jahren ins Genre der Fantasyliteratur verwiesen worden wären«, »gesamte Sichtweise verändert«, »bisherige Entwicklungslinien
der Biologie müssen neu überdacht werden«, »tiefe Implikationen für die Evolutionsbiologie«, »Theorie der Evolution höherer Tiere
revolutioniert«, »verwirrend«, »ernster Irrtum«, »aufrüttelndes Paradoxon« und »Paradigmenwechsel«. Ganz anders die Reaktion von Schu.
In ihren Blog-Beiträgen »Den Wald vor Bäumen nicht sehen…« (Teil eins u.
zwei) unterfüttert, ergänzt und korrigiert4) sie zwar die von
mir vorgestellten Befunde auf informative Weise, kann aber in ihren Bewertungen der Befunde nichts Erstaunliches an ihnen entdecken
und schon gar nicht, dass sie die aktuelle Evolutionstheorie in Frage stellen: »Wer natürlich heutige Befunde mit Vorstellungen in Einklang
zu bringen versucht, die fast ein halbes Jahrhundert alt sind, braucht sich nicht wundern, wenn er damit Probleme bekommt. Das als Widerspruch
zur Evolutionstheorie zu bezeichnen, ist aber purer Unfug.«
Schu präsentiert sich als Wissenschaftlerin, die nichts verblüffen und alles erklären kann. Solche Wissenschaftler bezeichnet man gewöhnlich
als dumm, denn sich von neuen Befunden irritieren zu lassen, ist zweifellos eine der wichtigsten Eigenschaften eines fähigen Forschers. Dass Schu hier Defizite zeigt, liegt an ihrem idealisierten Wissenschaftsverständnis. Als ich sie darauf aufmerksam machte, dass zu einem brauchbaren
biologischen Sachverstand eine »ordentliche Prise Skeptizismus« gehört, belehrte sie mich umgehend, dass ich Eulen nach Athen tragen würde,
weil »Skepsis eine Grundvoraussetzung zum Betreiben von Wissenschaft sei«. Im selben Atemzug legt sich, bei ihrem Hauptanliegen, die
Evolutionstheorie vor kritischer Infragestellung zu schützen, so ins Zeug, dass sie selbst ins Schussfeld gerät. So mag es zwar noch angehen,
dass sie mir unterstellt, grundlegende Vorstellungen der aktuellen Evolutionstheorie nicht zu kennen, aber sie provoziert erhebliche Zweifel
an ihrem eigenen Fachverstand, wenn sie meint, dass dies auch für die von mir zitierten Evolutionsbiologen gelten soll. Soll heißen: Wenn
führende Evolutionsbiologen aufs Tiefste über neue Befunde irritiert sind, dann täte sie als wissenschaftliche Novizin gut daran, ebenfalls
stark verwundert zu sein. Ist sie aber nicht und sieht stattdessen die Ursache für die Irritationen in vier Missverständnissen über die
tatsächliche Funktionsweise der Evolution.
Angebliches Missverständnis Nr. 1: »Evolution würde von einfach nach komplex verlaufen und dies erfolge durch die Addition neuer
Gene.« Erläuternd fügt sie an anderer Stelle hinzu: »Dass der Verlust von Genfunktionen oder auch ganzen Organen genauso vorkommt, wie die
Entstehung neuer Genfunktionen und Organen ist doch offensichtlich! Man denke an Darmparasiten, die keinen eigenen Verdauungsapparat mehr
haben, Höhlenfische, die blind sind oder keine Augen mehr haben (…).«
Schu’s Hinweis, dass die Evolution nicht nur von einfach nach komplex, sondern bedingt durch Verluste von Genfunktionen5) auch umgekehrt
verlaufen kann, ist zwar völlig korrekt, trägt aber wenig zur Erhellung der rätselhaften Befunde bei. Die erfordern eine Erklärung dafür,
warum eine im Stammbaum basal angesiedelte, morphologisch einfach gebaute Lebensform über ein genetisches Potenzial verfügt, das so komplex
ist, dass es seine Funktionen erst einige hundert Millionen Jahre später in höheren Wirbeltieren entfalten kann. Mit dem Kernmechanismus
der Evolutionstheorie, der seit Darwin darin besteht, dass die natürliche Selektion in einer sich wandelnden Umwelt die Lebewesen mit der
besseren Anpassung bzw. Fitness begünstigt, ist dies nicht zu erklären, da gar kein Selektionsdruck vorstellbar ist, der eine solch
komplexe Genausstattung bei primitivsten Tieren erzeugt haben könnte. Der von Schu angeführte Verlust der Sehfunktion bei Höhlenfischen oder
des Verdauungsapparates bei Darmparasiten ist in diesem Zusammenhang trivial, weil es sich in beiden Beispielen nicht um komplizierten
Funktionsaufbau, sondern um simple Funktionsverluste handelt, für die sich eine anpassungsbedingte Erklärung geradezu aufdrängt. Hier
wird dagegen ein plausibler Mechanismus für einen nicht oder doch zumindest nicht erkennbar anpassungsbedingten, ausgesprochen komplexen Funktionsaufbau gesucht.
Angebliches Missverständnis Nr. 2: Die verbreitete Vorstellung, dass der Gegensatz von primitiv fortgeschritten ist und es
ein ›unten‹ und ›oben‹ im evolutionären Stammbaum gebe. Schu stellt hierzu unmissverständlich klar, »dass der Gegensatz von ›primitiv‹ (besser: ursprünglich) in
Bezug auf Evolution nicht ›fortgeschritten‹, sondern ›abgeleitet‹ ist, und sich immer nur auf einzelne Merkmale bezieht, nicht etwa auf den
ganzen Organismus.« Ergänzend fügt sie an anderer Stelle hinzu: »Dass es eben *keine* Scala naturae gibt, keine in unterschiedlicher Perfektion
geschaffenen Arten und auch keine ›Evolutionsleiter‹, ist gerade die Kernaussage der Evolutionstheorie: Evolution ist ungerichtet, es gibt kein ›nach oben‹.«
Zweifellos hat sich die Erkenntnis, dass Evolution eine Variation ist, die keinesfalls automatisch zu mehr Fortschritt oder Komplexität führt,
noch nicht überall verbreitet. So wird häufig übersehen, dass unzählige einfache Formen (vor allem Einzeller) gibt, die sich seit Jahrmillionen
erfolgreich verweigern, komplexer zu werden, ohne dass dies zu Lasten ihrer Fitness geht. Und auch in Entwicklungslinien, in denen die Organismen
bereits eine gewisse Komplexität aufgebaut haben, kommt es bei verschiedenen Merkmalen immer wieder zu Komplexitätsreduktionen. Daraus aber zu
folgern, dass bei der Beschreibung evolutiver Merkmale die Begriffe »primitiv« und »fortgeschritten« (im Sinne von komplex) gestrichen und nur
noch »ursprünglich« oder »abgeleitet« verwendet werden sollten, führt zu einer trivialisierenden Wahrnehmung evolutiver Trends, in denen es
augenscheinlich bei vielen Merkmalen eine Komplexitätszunahme gegeben hat. Bekanntestes Beispiel ist sicherlich die Entwicklungslinie, die
von den Fischen über die Amphibien und Reptilien zu den Säugetieren führt. Dies bedeutet nicht, dass komplexere Merkmale einfacheren
generell überlegen sind, denn die Ausdifferenzierung von Merkmalen ist nicht nur vorteilhaft, weil sie z. B. häufig zu einer
Verminderung ihrer Regenerationsfähigkeit oder Robustheit führt.
Weshalb riskiert Schu, die Vielschichtigkeit evolutiver Trends nur reduziert wahrzunehmen? Der Grund dafür, scheint mir darin zu liegen,
dass sie eine überzeugte Kladistin ist. Die Kladistik ist eine phylogenetische Klassifizierungsmethode, die nicht an möglichst vielen,
sondern ausschließlich anhand von abgeleiteten (apomorphen), d. h. in Bezug auf den Rest des Stammbaums neuen Merkmalen versucht, die
Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Arten zu klären. Ob ein Merkmal ursprünglich oder abgeleitet ist, wird im Zweifelsfall an einem
sogenannten Außengruppenvergleich bestimmt. Alle Arten, die nach kladistischer Klassifizierung auf eine gemeinsame Stammart zurückgehen,
werden zu einer monophyletischen Gruppe zusammengefasst. Im Unterschied zur klassischen Systematik gibt es in der Kladistik weder
hierarchische Kategorien (Klasse, Ordnung etc.) noch paraphyletische Taxa, d. h. Gruppen, die nicht alle Nachfahren einer Art enthalten.
Die Kladistik basiert zwar auf der genealogischen Verwandtschaft konstruiert aber keine genealogischen Stammbäume, sondern Kladogramme,
in denen die Beziehungen zwischen verschiedenen Arten als Folge von regelmäßigen Verzweigungen dargestellt werden. An den Gabelpunkten
befindet sich jedoch keine benannte Stammform, sondern hier wurde ein neues Merkmal erworben, das an jede Art, die sich im Diagramm
oberhalb des Verzweigungspunktes befindet, weitergegeben wird. Aufgrund ihrer rigiden Methodik beansprucht die Kladistik, den wahren
oder doch zumindest wahrscheinlichsten Evolutionsablauf nachzuzeichnen.
Die Kladistik ist heute die vorherrschende Methode zur Ermittlung stammesgeschichtlicher Verwandtschaftsverhältnisse. Aufgrund ihrer
Fehleranfälligkeit ist sie aber keineswegs unumstritten6). Bereits ihre Etablierung war mit heftigsten Geburtswehen verbunden und gilt
als Paradebeispiel für einen Paradigmenwechsel. Den frühen Kladisten standen die klassischen Systematiker als ausgesprochen feindlich
gesinntes Establishment gegenüber. Der Paläontologe Richard Fortey (2002) beschreibt in seinem Buch »Leben - Eine Biographie« treffend
die religiöse Dimension des damaligen Theorienstreits: »Der Gründervater der Kladistik, der deutsche Entomologe Willy Hennig, wurde zu
einem weltlichen Heiligen erhoben. (…) Kollegen erkundigten sich mit gesenkter Stimme bei ihren Freunden ›Bist Du oder bist Du
nicht?‹ Man wurde Kladist, wie man anderweitig Buddhist wurde.« Die Kladisten waren eine Art verschworene Bewegung, die sich den
klassischen Systematikern weit überlegen fühlte. Ihre Methodik knüpfte schließlich an die Darwinsche Evolutionslehre an, während die
klassische Systematik auf Linné zurückging und deshalb als vordarwinistisch betrachtet wurde. Von ambitionierten Kladisten wird daher
immer wieder gefordert, die klassische Systematik weitgehend aufzugeben. Sie sei inkonsequent, weil sie überflüssige Kategorien und
paraphyletische Taxa enthalte, welche die Errichtung eines konsequent phylogenetischen Systems verhindern würden. Das Paradebeispiel
dafür sei die systematische Klasse der Vögel, die ihre kladistische Schwestergruppe Krokodile ausklammere und daher irreal sei.
Die Kladisten übersehen in ihrer Argumentation, dass paraphyletische Gruppen genauso real sind, wie die von ihnen präferierten
Monophyla. Sie müssen dies übersehen, weil sie ihre rigide Klassifizierungsmethodik, die nur das Merkmal der gemeinsamen Abstammung
und keine anderen, womöglich widersprüchlichen Ähnlichkeitsmerkmale als Systematisierungskriterium zulässt, mit der Wirklichkeit
gleichsetzen. Der Systematiker Rüdiger Schmelz kommentiert diesen Trugschluss wie folgt: »Paraphyletische Gruppen kommen zustande,
wenn neben gemeinsamer Abstammung (descent) ein zweites die Evolution der Organismen prägendes Element systematisierungsrelevant ist,
das der abstammungsbedingten Ähnlichkeit bzw. Abwandlung (modification). Zwei unterschiedliche Systematisierungskriterien führen aber
unweigerlich zu Entscheidungskonflikten. Nun sind mehrere phylogenetische Systeme möglich, und man muss abwägen. Um das zu vermeiden,
wird Modifikation als Kriterium ausgeblendet. Das Argument ist also verfahrenstechnisch und nicht sachlich: Wir wählen diejenige
Methode, mit der nur ein System zustande kommt. Dieses muss aber nicht das beste sein, auf keinen Fall ist es das einzig
Wahre. (...) Wer behauptet, dass Paraphyla nicht ›tatsächlich exisitieren‹, sagt im Grunde nicht mehr, als dass sie eben
keine Monophyla sind. Das Realitätsargument ist also zirkulär oder metaphysisch; in beiden Fällen ist es biologisch
irrelevant.« (GfBS-Newsletter 13/2004, vgl. Anmerkung 6)
Eine rigide und dazu noch ausgesprochen fehleranfällige Methode, die sich, um eindeutige Ergebnisse präsentieren zu können,
Doppeldeutigkeiten verschließt, spiegelt aber höchst selten die Wirklichkeit wider. Und genau hier liegt bei Schu’s
Verabsolutierung des reduzierten kladistischen Begriffsvokabulars der Hase im Pfeffer7). Sie ontologisiert die kladistische
Methode und begreift nicht, dass Klassifizierungssysteme vorrangig der Kommunikation dienen. Im günstigen Fall befruchten
sich solche Systeme gegenseitig und führen zu Neubetrachtungen von erfolgten Gruppierungen. Die Inhalte und Anwendungsgebiete
der unterschiedlichen Systeme werden aber nie identisch. Soll heißen: Im Extremfall ist die Kladistik eine Sprache, die nur für
Kladisten gilt! Es erweckt häufig den Eindruck, dass die Attraktivität der Kladistik weniger auf ihre methodische Effizienz, als auf
willkommene Nebeneffekte gründet. So bewirkt der Wegfall der systematischen Kategorien, dass sich das schwärende Problem fehlender
Übergangsformen zwischen höheren Kategorien und makroevolutiver Mechanismen nahezu in Luft auflöst. Auch bei der Entwicklungslinie,
die von den Nesseltieren zu den Wirbeltieren führt, verschleiern die kladistischen Begriffe »ursprünglich« und »abgeleitet«, dass hier der
Evolutionsverlauf regelrecht auf den Kopf gestellt wurde, denn hier beginnt die Evolution, nicht mit geringst möglicher (›primitiver‹),
sondern nahezu höchst möglicher (›fortgeschrittener‹) genetischer Komplexität.
Für einen überzeugten Kladisten zählt die Verwendung des Begriffes »Fortschritt« in Zusammenhang mit der Beschreibung evolutiver
Abläufe zu den schlimmst möglichen Vergehen. Auch Schu weist wiederholt darauf hin, dass die Evolution nicht nach Perfektion strebt,
sondern ungerichtet und zufällig zu sein hat. Tatsächlich gibt es heute kaum noch einen Evolutionsbiologen, der nicht vor der
Verwendung des Forschrittsbegriffes in Zusammenhang mit Evolution warnt: Der Begriff sei undefinierbar, benötige einen Bezugspunkt
und sei durch seine Verwendung bei der Beschreibung der kulturellen oder technischen Evolution stark anthropozentrisch geprägt.
Ebenso oft ist allerdings festzustellen, dass die Autoren (und dies beginnt schon mit Darwin) ihre eigenen Warnungen missachten
und progressive Begriffe bei der Beschreibung stammesgeschichtlicher Entwicklungen verwenden. Dort ist dann nicht nur von
Ausdifferenzierung von Merkmalen oder Komplexitätszunahme, sondern auch von verbesserter Anpassung, Höherentwicklung oder
höherem Organisationsgrad die Rede8). Und dies bezieht sich nicht nur auf einzelne Merkmale, sondern auf ganze Organismen.
Tatsächlich liegt es z. B. nahe, ein urtümliches Lebewesen, das aus erheblich weniger Zelltypen als ein anderes der gleichen
Entwicklungslinie besteht, als primitiver oder doch zumindest weniger hoch entwickelt zu beschreiben. Auf die Wahrnehmung solcher
Phänomene nur deshalb zu verzichten, weil die Begriffe, mit denen sie beschrieben werden, verfängliche Konnotationen haben oder
nicht exakt definiert sind, scheint mir jedenfalls kein angemessener wissenschaftlicher Umgang mit ›Unbekanntem‹ bzw. noch
weithin ungeklärten evolutiven Trends zu sein.
Angebliches Missverständnis Nr. 3: »Die Vorstellung, beispielsweise Korallen wären primitive Organismen, weil die Linie, zu der sie
gehören, sich früh von der Linie abgespalten hat, zu der wir Menschen gehören, ist Blödsinn. Korallen mögen in manchen Eigenschaften
ihren Vorfahren ähnlich sehen, aber in manchen Eigenschaften werden sie sich stark von ihren Vorfahren unterscheiden. Dasselbe gilt
für Menschen, Fadenwürmer, Fruchtfliegen und jede andere Tier- oder Pflanzenart, die heute auf der Erde zu finden ist.«
In meinem Beitrag wurden Korallen nicht als primitive Organismen bezeichnet, weil sie sich früh von der Entwicklungslinie der
Wirbeltiere abgespalten haben, sondern weil sie über eine sehr einfache Gewebemorphologie (z. B. das primitivste Nervensystem)
verfügen. Darüber hinaus ist der Hinweis, dass sich alle Arten bezüglich der einen oder anderen Eigenschaft von ihren Vorfahren
unterscheiden mindestens trivial. Schu versucht hier, von dem Phänomen stark abweichender Evolutionsgeschwindigkeiten9) und der
Existenz ›lebender Fossilien‹ abzulenken. Darunter versteht man rezente Arten, die während langer geologischer Zeitspannen wenig
oder keine evolutiven Änderungen zeigen. Da dies meistens anhand des Vergleiches mit dem Fossilbefund nachgewiesen wird, steht die
morphologische Stagnation im Vordergrund. Von Kladisten wird dies nicht akzeptiert, weil der morphologische Befund nicht ausreiche,
um die artliche Identität festzustellen. Dieses Kriterium ist aber praktisch bei keinem ›lebenden Fossil‹ erfüllbar. Der Paläontologe
Erich Thenius (2000) bemerkt dazu in seinem Buch »Lebende Fossilien«: »Deshalb aber die Existenz ›lebender Fossilien‹ überhaupt zu leugnen,
hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Eine derartige Ansicht wird hauptsächlich von jenen Evolutionsbiologen vertreten, die ein
weitgehendes Stagnieren der Evolution bei manchen Gruppen nicht wahrhaben wollen (...).« Man könnte Schu’s Plattitüde vom
immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die Konstanz der molekularen Evolution bezieht.
Für die ist aber charakteristisch, dass sie von den Grundfunktionen oder -strukturen, also den Eigenschaften eines Organismus
weitgehend abgekoppelt ist.
Angebliches Missverständnis Nr. 4: Der Mensch sei die am meisten ›evolvierte‹ Art: »Die Untersuchung [des Korallengenoms] widerlegt,
wenn überhaupt irgendetwas, zunächst mal die Vorstellung, dass der Mensch die am meisten ›evolvierte‹ Art darstellt. Wir sind jedenfalls
bezogen auf die untersuchten Sequenzen, näher dran an unser aller gemeinsamer Vorfahren als Fadenwürmer und Fruchtfliegen, so sehr uns das
auch manchen gegen den Strich gehen mag.« Die Irritation der von mir zitierten Autoren erklärend fügt sie hinzu: »Ich behaupte, die Ergebnisse
waren deshalb überraschend, weil sie einer ›anthropozentrischen‹ Erwartungshaltung widersprechen, nach der der Mensch am weitesten ›evolviert‹ sein soll.«
Spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre erschienenen Buch »Zufall Mensch - Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur« des Paläontologen Stephen
Jay Gould ist selbst einem evolutiv interessierten Laienpublikum bekannt, dass der Mensch aus darwinistischer Perspektive kein Ziel der Evolution,
sondern ein Produkt unzähliger evolutiver Zufälle ist. Diese Relativierung seiner Herkunft ändert allerdings nichts an seiner außergewöhnlichen
Stellung. Kein anderes Lebewesen hat eine im Vergleich zu ihm nennenswerte technische und kulturelle Evolution hervorgebracht und kein Lebewesen
neigt dazu, Theorien über die Umstände seiner Entstehung zu machen. Zumindest ist solcherlei Reflexionstätigkeit von anderen Lebewesen bisher nicht
bekannt geworden. Um die Sonderstellung des Menschen unverdächtig zum Ausdruck zu bringen, könnte man ihn in Anlehnung an eine Formulierung des
Ultradarwinisten Richard Dawkins vielleicht als einen ›skurrilen Gipfel der Unwahrscheinlichkeit‹ bezeichnen. Schu würde solcherart Relativierung
des einstigen Spitzenproduktes der Evolution sicherlich nicht ausreichen. Aus kladistischer Perspektive ist für sie der Mensch eine im Vergleich
zu Fadenwürmern und Fruchtfliegen sogar ausgesprochen wenig ›evolvierte‹ Art. Dieser zwar nicht uninteressanten aber absurden Interpretation von
Evolution möchte man hinzufügen: Da sieht man mal was dabei herauskommt, wenn man eine Methode mit der Realität verwechselt und Kladistik als
Lebensform betreibt.
Nachbemerkung: Sollte Schu’s Beurteilung des evolutiven Status des Menschen wirklich zutreffen, führt der Weg von der kalten Rigidität der
Kladistik direkt in den warmen Schoß der Religion. Wenn es kein extremer, sondern nur ein untergeordneter evolutiver Wandel war, der den
Menschen hervorgebracht haben soll – Evolution also quasi irrelevant war, dann kann es doch nur der Gott der Evangelien gewesen sein, der
in seiner unendlichen Güte ein minderes, evolutiv weit unter Fadenwürmern und Insekten angesiedeltes Geschöpf auserwählt hat, um es mittels
Erleuchtung durch den heiligen Geist zu dem außergewöhnlichen Lebewesen zu machen, das es ist. Wenn das mal nicht der siebte Gottesbeweis ist?!
Anmerkungen
1) Es ist eine Binsenweisheit, dass jeder bedeutenden Entdeckung einen Bruch mit den bisherigen Konzepten vorausgeht. Das war bei
Newtons Gravitationstheorie nicht anders als bei Einsteins Relativitätstheorie. Was Schu da als »funktionierende wissenschaftliche
Methode« beschreibt, das ist höchstens so etwas wie der normalwissenschaftliche Alltag von Subalternen oder Dogmengläubigen.
2) Die Geschäftsführung AG Evolutionsbiologie war von Schu so angetan, dass sie auf der Website der AG gleich mit einem Doktortitel
vorgestellt wurde. Ihre erste Amtshandlung bestand daher darin, postwendend klarzustellen, dass dies zuviel der Ehre sei und sie die
Promotion derzeit noch anstrebe.
3) Es erstaunt immer wieder, wie einfach überzeugte Anhänger des Wissenschaftsbetriebes zwischen echter Wissenschaft
und »kompletten Bullshit« unterscheiden können. Ein Beispiel ist Schu’s Kommentar zu meiner Bemerkung, dass der finnische
Physiker Pitkänen, die DNA nicht nur als einen biochemischen, sondern auch als einen elektromagnetischen Informationsspeicher
betrachtet: »Was Pitkänen angeht, darauf bin ich gar nicht erst eingegangen, weil das alles aber auch nicht den letzten Schimmer
einer irgendwie in der Realität basierende Grundlage hat.« Zweifellos fällt Schu ihr vernichtendes Urteil, ohne auch nur den
Schimmer eines Blickes in Pitkänens umfangreiches Werk geworfen oder auch nur den Schimmer einer Vorstellung von seiner komplexen
Argumentation zu haben. Dabei gäbe es für einen wirklich erkenntnisinteressierten Evolutionsbiologen reichlich Anlass, sich mit
Pitkänen zu beschäftigen. Er ist der einzige Forscher, der eine Hypothese für die Erklärung der verblüffenden Elektrofeldexperimente
liefert. Das derzeit wohl einzige Experiment, das verdient, im Zusammenhang mit den noch weithin ungeklärten Mechanismen für
Makroevolution genannt zu werden.
4) Ich hatte aus der Tatsache, dass die Evolutionsbiologen sich verblüfft über die genetischen Übereinstimmungen zwischen
Korallen und Menschen und die genetischen Divergenzen zwischen Korallen und Fadenwürmer sowie Insekten zeigten, spontan
geschlossen, dass Korallen näher mit Fadenwürmern und Fruchtfliegen als mit den Menschen verwandt sind. Dies trifft nicht zu,
wie Schu aufs Ausführlichste an der Darstellung und Interpretation von Kladogrammen (die ich gar nicht zu Rate gezogen hatte) klarstellt.
Für meine Intention, zu zeigen, dass durch die Befunde fundamentale evolutionstheoretische Erklärungsansätze ins Wanken geraten, ist
dies aber unerheblich, weil Schu’s Korrektur nichts an der evolutionsbiologischen Erwartungshaltung bezüglich der abgestuften
Ähnlichkeiten der Genausstattungen der angeführten Organismen ändert. Die orientiert sich an dem Zeitpunkt der Abspaltung von der
Entwicklungslinie des Menschen, d. h. Organismen wie Fruchtfliege und Fadenwurm, die sich erst später von der Entwicklungslinie
des Menschen abspalteten, sollten mehr Gemeinsamkeiten mit seiner Genausstattung zeigen, wie Korallen, die dies bereits viele Millionen
Jahre früher getan haben.
5) Es trifft zwar zu, dass während der Evolution Genverluste genauso vorkommen, wie die Entstehung neuer Genfunktionen. Zwischen
beiden Phänomenen, besteht aber ein qualitativer Unterschied. Bevor es zu dem relativ trivialen Verlust einer Genfunktion kommen
kann, muss sie erst einmal aufgebaut werden. Oder plakativ formuliert: Es ist erheblicher einfacher Sand ins Getriebe zu werfen,
als ein Getriebe zu konstruieren oder zu verändern.
6) Im Newsletter 12/2004 der Gesellschaft für biologische Systematik (GfBS-News) hatte der Berliner Zoologe Walter
Sudhaus in einem »Zwischenruf«, die Abschaffung der Kategorien in der Systematik zur Schaffung eines konsequent phylogenetischen
System gefordert. Im darauf folgenden Newsletter (13/2004) stieß die Forderung auf massiven Widerspruch. So stellte der Kieler
Zoologe Sievert Lorenzen in seinem Beitrag »Das Richtige wollen, das Falsche tun – die Kladistik als Quelle von
Unwissenschaft« die Wissenschaftlichkeit der Kladistik grundsätzlich in Frage: »Bis heute kann ich nicht verstehen, warum
Kladisten nicht aufgefallen ist, dass der Außengruppenvergleich bestenfalls nutzlos ist und im schlimmeren Fall sogar als Rezept
für Zirkelschlüsse benutzt werden kann. Letztere werden immer dann produziert, wenn ein behauptetes System zur Grundlage für die
Bestimmung von Innen- und Außengruppen auf verschiedenen taxonomischen Niveaus gemacht und wenn der Außengruppen dann dazu
benutzt wird, das behauptete System zu begründen. Dann aber wird eine Behauptung als Voraussetzung benutzt, um die Behauptung
zu begründen, ganz wie dies für Zirkelschlüsse erforderlich ist. (...) Wenn Autoren eines Systems die von ihnen angeführten
Autapomorphien nicht begründen, so unterstelle ich ihnen also, dass sie den Außengruppenvergleich als Zirkelschlussmethode
angewandt und somit Unwissenschaft betrieben haben.«
7) Der bereits zitierte Fortey hat auch den überzeugten Kladisten vom Typ Schu treffend beschrieben: »Diplomanden und
Doktoranden sind meist die eifrigsten Konvertiten, denn in ihnen vereint sich die Energie der Jugend mit dem Wunsch, ihrem
neuen Herrn zu gefallen. Sie möchten gerne dazu ›gehören‹.«
8) Ein anschauliches Beispiel ist der Vorsitzende der AG Evolutionsbiologie Ulrich Kutschera. Der weist in seinem
Lehrbuch »Evolutionsbiologie« daraufhin, dass eine »›Höherentwicklung« (d. h. Komplexitätszunahme)« nicht zwangsläufig
mit Evolution verbunden sein muss und stellt an anderer Stelle des selben Buches den Menschen und die Maispflanze ganz
unbefangen in klassischer Stufenleitersymbolik als »zwei der am höchsten entwickelten (komplexesten) Organismen unserer
Biosphäre« und sogar als »›Kronen der Stammesentwicklung‹« dar. Schu richtet ihre aufklärerischen Ansprachen, in denen
sie das »Missverständnis ausmerzen« möchte, dass es in »unterschiedlicher Perfektion geschaffene Arten« und
eine »Hauptevolutionslinie, die letztendlich zu den Menschen führte« gäbe, gerne an »Kreationisten und Konsorten«.
Das angeführte Beispiel zeigt, dass der Begriff »Konsorten« offenbar selbst höchstrangige Funktionsträger aus den eigenen Reihen einschließt.
9) Sie befindet sich damit in guter Tradition, denn auch den Darwinisten ist es nie gelungen, ihre Vorstellung einer graduell
fortschreitenden Zufallsevolution mit der fossilen Überlieferung in Einklang zu bringen. Die leistet dem darwinistischen
Gradualismus erbitterten Widerstand, weil sie zweifelsfrei dokumentiert, dass sich kurze Zeiten der Artbildung mit langen
Zeiten ablösen, in denen sich die Arten nicht oder so gut wie nicht verändern.
G. M., 16.07.2008