Kritische Naturgeschichte > Über Größen [Ernst Mayr]


 

»Apostel Darwins«

»Vom Ententeich in Moritzburg zu olympischen Höhen in Harvard«

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Am 03.02.05 ist der Evolutionsbiologe Ernst Mayr nach kurzer Krankheit im Alter von 100 Jahren gestorben. Mayr, der sich selbst als letzten Überlebenden des goldenen Zeitalters der Evolutionären Synthese bezeichnete, war schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Er hatte einen monumentalen Einfluss auf das Denken über fast alle wichtigen Fragen in der Evolutionsbiologie. Mit seinen über 700 Fachpublikationen und 25 Büchern hat er mehrere Generationen von Biologen geprägt. Ihm wurden an die 20 Ehrendoktorwürden verliehen, darunter sogar eine in Philosophie, auf die er besonders stolz war [1]. Er wurde zum Mitglied in mehr wissenschaftliche Akademien gewählt als irgendein anderer Wissenschaftler. Darüber hinaus hat er praktisch jede bedeutende Auszeichnung bekommen, die an Biologen verliehen wird. Er ist der erste Wissenschaftler, der die »triple crown« der Biologie erhielt: Den Balzan-, den Crafoord- u. den Internationalen Preis für Biologie. Die mit den Auszeichnungen verbundenen Preisgelder hat er gestiftet und waren ihm nicht so wichtig, aber »vom süßen Duft des Ruhmes« konnte er gar nicht genug bekommen [2]. Böse Zungen haben sogar spekuliert, dass seine enorme bis ins hohe Alter vorhandene Schaffenskraft (noch in seinem letzten Lebensjahr hat er ein Buch veröffentlicht) sich dadurch erklärt, dass er bis zum Schluss auf die Verleihung des Nobelpreises gehofft hat. Wenn er von Reportern darauf angesprochen wurde, wies er daraufhin, dass es keinen Nobelpreis für Biologie gäbe und fügte etwas verbittert hinzu, »dass nicht einmal Darwin einen Nobelpreis bekommen hätte, wenn er nach derart von der Physik infizierten Kriterien vergeben würde wie die anderen naturwissenschaftlichen Nobelpreise« [3].

Der Apostel Darwins

Bei seinen zahlreichen runden Geburtstagen, dienstlichen Jubiläen, Preisverleihungen wurde er von seinen Schülern und Jüngern und sogar selbst von Evolutionsbiologen, mit denen er sich zerstritten hatte (die ärgsten Feinde hat er allerdings überlebt) mit Superlativen überhäuft: »Der größte lebende Evolutionsbiologe«, »Bedeutendster Evolutionstheoretiker nach Darwin«, »Darwin des 20. Jahrhunderts«,»Der Apostel Darwins«, »Nestor des Neodarwinismus«, »Der Jahrhundert-Biologe«, »Gigant der Biologie«, »The grand old man of biology«, »Der Meister des Warum«, »Der Zusammendenker« - um nur die geläufigsten zu nennen. Da er vor Selbstvertrauen nur so strotzte, machte er keinen Hehl daraus, dass diese Superlative auf ihn zutrafen. Auf die Frage eine Interviewerin, wie man sich fühlt, wenn man als Darwin unserer Zeit gefeiert wird, antwortete er: »(...) Es mag übertrieben klingen, aber ich kenne niemanden, der sich mit den Feinheiten der Evolutionsbiologie besser auskennt als ich. Man hat mich einmal gefragt, wer die Nummer zwei sei. Das brachte mich in Verlegenheit. Denn offen gestanden: Da ist niemand, der mir sehr stark Konkurrenz macht«[4]. Wer war dieser Mensch, wie verlief seine Karriere und welche wissenschaftlichen Leistungen lassen ihn für sich selbst und die Fachwelt so bedeutend erscheinen?

The key to heaven

Der am 05.07.1904 in Kempten (Allgäu) geborene Ernst Mayr konnte schon als Teenager sämtliche heimischen Vögel am Gesang oder Gefieder erkennen. Schon früh machte er durch eine außergewöhnliche Naturbeobachtung auf sich aufmerksam. 1923 entdeckte er auf einem Teich in der Nähe von Dresden (mit dem Fernglas, das ihm seine Mutter zum gerade bestandenen Abitur geschenkt hatte) ein Kolbenentenpaar (Netta rufina), eine damals äußert seltene Art, die schon seit 80 Jahren nicht mehr in Mitteleuropa gesichtet worden war. Daraus ergab sich ein Kontakt mit dem berühmten Berliner Ornithologen Erwin Stresemann, der sein erster Mentor wurde. Stresemann war von den ornithologischen Kenntnissen Mayrs und seinem Enthusiasmus beeindruckt und lud ihn ein (Mayr hatte zwischenzeitlich in alter Familientradition ein Medizinstudium in Greifswald begonnen), in den Semesterferien als Volontär am Berliner Zoologischen Museum zu arbeiten. Mayr sagte sofort zu und bemerkte später: »It was as if someone had given me the key to heaven« [5]. Im Jahre 1925 überredete Stresemann den jungen Mayr, sein Medizinstudium abzubrechen und ein Zoologiestudium in Berlin zu beginnen, »wenn er denn jemals die Tropen sehen wollte«[6]. Und natürlich wollte Mayr die Tropen sehen: Im Schnellverfahren von nur 16 Monaten (!) schloss Mayr Studium und Promotion, die Voraussetzung für eine Assistentenstelle am Zoologischen Museum war, im Alter von nur 21 Jahren ab. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete »Die Ausbreitung des Girlitz«. (Der Girlitz ist ein kleiner, ursprünglich mediterraner Finkenvogel, der sich erst zu Beginn des 20. Jh. in Norddeutschland ausgebreitet hat). Parallel zu seinem zoologischen Blitzstudium absolvierte er auch noch sein Medizinstudium bis zum Physikum, um für den Fall eines Scheiterns seiner zoologischen Karriere auf Nummer sicher zugehen.

Gucken und Päng

In der Tradition von Darwin und anderen viktorianischen Naturforschern begann Mayr seine wissenschaftliche Karriere mit einer Expedition in abgelegene Teile der Erde. Die Möglichkeit dafür ergab sich, als Lord Rothschild (ein Spross der gleichnamigen Bankerdynastie) jemand suchte, der für ihn nach Neuguinea ging, um Paradiesvögel zu sammeln. Rothschild besaß auf dem Sitz der Familie in Tring (nördlich von London) die größte private Sammlung von Vogelbälgen. Auf Empfehlung von Stresemann stimmte er zu, den ersten 23-jährigen Mayr auf die Reise zu schicken. Im April 1928 brach Mayr zu einer abenteuerlichen Ein-Mann Expedition, die ihn zunächst in die unzugänglichen Bergwälder Neuguineas und direkt anschließend mit der Whitney-Expedition auch noch zu den Salomon-Inseln führte. Er überlebte den Sturz von einem Wasserfall, das Kentern seines Kanus, diverse Tropenkrankheiten und sogar eine voreilig, nach Berlin telegrafierte Meldung, dass er bei der Begegnung mit feindlich gesinnten Ureinwohnern umgekommen sei. Und vor allem schoss er mehrere Tausend Paradies- und andere exotische Vögel. Die Federbälge wurden sorgfältig präpariert, während das Innere in der Regel im Kochtopf landete. »Gucken und päng. Ich habe über 4.000 Vogelhäute zurückgeschickt«, schilderte Mayr gegenüber einem Journalisten seine damalige Exkursionsarbeit [7]. Sein Doktorvater Stresemann schrieb ihm nach Neuguinea: »Also mein liebes Schlaumayrchen, halten Sie die Ohren steif, vergessen Sie nicht, Chinin zu nehmen, das Pulver trocken zu halten und die Vögel zu lieben...«[8]. Da Liebe bekanntlich durch den Magen geht, aß Mayr auf seiner insgesamt zweieinhalb Jahre dauernden Expedition so viele verschiedene Arten von Paradiesvögeln, dass er später den Weltrekord dafür beanspruchte. Er fügte aber stets hinzu, dass sie alle gleich schmecken...

Eine infame Lady als Karrieremotor

Schon kurz nach seiner Rückkehr bot man Mayr eine befristete Stelle am American Museum of Natural History (AMNH) in New York, die ihn 1931 nach Amerika führte. Dort betreute er zunächst die Whitney-Sammlung und später auch die auch die 280.000 Bälge umfassende Vogelsammlung von Lord Rothschild. Eine außereheliche Affäre mit einer (erpresserischen) Dame hatte den Lord in schwere Finanznöte gebracht, so dass er seine Privatsammlung an das Naturkundemuseum verkaufen musste. Der infamen Lady verdankt Mayr nach eigenem Bekunden, dass er nicht, wie von Lord Rothschild beabsichtigt, als Kurator seiner Sammlung in der englischen Provinz endete, sondern die olympischen Höhen als Alexander Agassiz Professor für Zoologie in Harvard erreichen konnte. Als Kurator der Whitney-Rothschild-Sammlung am Museum of Natural History machte sich Mayr sofort intensiv an die Arbeit über die Systematik und Biogeography der Südpazifikvögel. Dabei beschrieb er mit 26 neuen Arten und 445 neuen Subspezies mehr Taxa als jeder andere zeitgenössische Ornithologe [5]. Das für den jungen Mayr bedeutendste Ergebnis seiner Expedition war jedoch nicht die Entdeckung neuer Arten, sondern der vermeintlich endgültige Nachweis, dass Arten objektive Entitäten der Welt sind. Mayr hatte festgestellt, dass von den 138 von ihm in Neuguinea beschriebenen Arten, der einheimische Stamm der Papuas 137 davon einen eigenen Namen gegeben hatte [9]. Das mag auf den ersten Blick für die Objektivität der Art überzeugend klingen, sollte einen kritischen Wissenschaftler aber stutzig machen. Der Molekularbiologe Werner Kunz bringt die Geschichte auf den Punkt: »Intuitive ›Volksbiologie‹ ist kein Wahrheitskriterium. Wissenschaftliches Denken muss ein theoretisches Konzept haben, auf dessen Basis eine Aussage als richtig oder falsch eingestuft werden kann« [10].

Architekt der neuen Synthese

Ab Mitte der 1930er Jahre beschäftigte sich Mayr verstärkt mit mehr theoretischen Fragen der geographischen Variation und Evolution von Vögeln. Er konnte dabei auf die Erfahrungen aus seiner Südsee-Expedition, seinen intensiven Studien zur Systematik und die Arbeiten anderer zeitgenössischer Evolutionsforscher zurückgreifen. Vor allem der russischstämmige Käferspezialist und Genetiker Theodosius Dobzhansky hat ihn, wie er später betonte, stark beeinflusst: »Here is finally a geneticist who understands us taxonomists!« [11]. Auf seiner Expedition hatte Mayr beobachtet, dass sich die Populationen von Arten auf Inseln von denen auf dem Festland oder anderen Inseln in ihren Merkmalen unterscheiden, so dass sie je nach Ausprägung der Unterschiede als Subspezies oder sogar als eigene Art klassifiziert werden mussten. Mayr schloss daraus auf die Bedeutung der geographischen Isolation für die Artbildung und definierte Arten nicht mehr morphologisch, sondern als genetisch isolierte Reproduktionsgemeinschaften. Er veröffentlichte seine Erkenntnisse in seinem 1942 erschienenen und vielleicht einflussreichstem Buch »Systematics and the Origin of Species« [24]. Es hat wesentlich zu seinem Ruf als Architekt der sogenannten »Modern Evolutionary Synthesis« beigetragen. Etwa zwischen 1930 und 1950 bestand das Ziel der »Neuen Synthese der Evolution« darin, Darwins Theorie der natürlichen Selektion und des graduellen Wandels mit den neuen Erkenntnissen der (Populations-)Genetik und der Systematik unter einem theoretischen Dach zu vereinen. Nachdem Mayr während seiner Tätigkeit im Naturkundemuseum bereits an der New Yorker Columbia Universität gelehrt hatte, wechselte er 1953 als Professor der Zoologie an die Harvard Universität in Massachusetts, wo er von 1961 bis 1970 auch noch Direktor des Museums für vergleichende Zoologie der Universität war. Im Jahre 1975 wurde er emeritiert, was ihn aber bekanntlich nicht daran hinderte, weiterhin als Vollblut-Wissenschaftler zu agieren.

Schweigsame Synthetiker

Mayr hat bis zu seinem Tod die Auffassung vertreten, dass mit der Formulierung der modernen Synthese alle Hauptprobleme der Darwinschen Evolutionslehre, die seit der Wiederentdeckung der Mendelschen Genetik zu Beginn des 20. Jahrhundert in eine schwere Krise geriet, gelöst waren [4]. In Interviews machte er nie einen Hehl daraus, dass sein Beitrag dazu von überragender Bedeutung gewesen sei. Wissenschaftshistoriker haben wiederholt versucht, das Geflecht von Beziehungen, in dem die synthetische Theorie geboren wurde, zu analysieren und die tatsächlichen Leistungen der beteiligten Forscher zu würdigen. Ein aussichtsloses Unterfangen nicht nur wegen der Vielzahl der beteiligten Forschergruppen, sondern auch, weil die ›scientific community‹sich bei genauerer Betrachtung häufig als ein undurchsichtiges, von persönlichen Eitelkeiten, Sympathien und Abneigungen gesteuertes Geflecht entpuppt. Dies sei durch eine Anekdote illustriert: »Als Ernst Mayr und der Paläontologe G. Simpson an Ideen arbeitenden, welche später in die ›neue Synthese‹ eingingen, waren beide am New Yorker ›Museum of Natural History‹ angestellt. Fast 20 Jahre lang saßen sie mittags zusammen mit anderen Kollegen am Tisch, der den Angestellten reserviert war, und beide bestätigten, dass sie in diesen Jahren nie über Biologie gesprochen haben!« [3]. Auch hier wird weitgehend darauf verzichtet, die Originalität von Mayrs Beiträgen zur synthetischen Evolutionstheorie zu kommentieren. Stattdessen sollen diejenigen Beiträge, die er selbst immer wieder als seine wichtigsten bezeichnet hat, nämlich die Formulierung der Art als Fortpflanzungsgemeinschaft und die Artbildung durch geographische Isolation, etwas genauer unter die Lupe genommen werden.

Ungebildete Idioten

Nach Mayrs Definition aus dem Jahre 1942 sind Arten Gruppen sich tatsächlich oder potentiell kreuzender natürlicher Populationen, die reproduktiv isoliert sind von anderen solchen Gruppen. Diese Definition wird häufig als »biologischer Artbegriff« bezeichnet. Dies ist jedoch eine verbale Überschätzung, denn der morphologische Artbegriff ist genauso biologisch, wie der reproduktive Artbegriff. Im biologischen Alltag hat der morphologische Artbegriff sogar die größere Bedeutung, denn kein Taxonom bestimmt z. B. Insekten (die bekanntlich die größte Artengruppe bilden) danach, ob sie reproduktiv voneinander isoliert sind. Darüber hinaus ist Mayrs Definition auf Lebewesen, die sich ungeschlechtlich vermehren, nicht anwendbar. Mayr selbst schätzt seine Leistung wie folgt ein: »Was ich gemacht habe, ist eine Definition der ›biologischen Art‹ vorzuschlagen, die so gut ist, dass kein Mensch sie hat verbessern können« [6]. Ironischerweise hat Mayr sie später selbst verbessert, in dem er das problematische Wort »potentiell« gestrichen hat. Mit dieser geringfügig erscheinenden Auslassung hat Mayr die Zahl der Arten kurzerhand um einige hunderttausend vermehrt [12]. Die mit der Definition von Arten verbundenen vielschichtigen Probleme können hier nur angerissen werden. So werden von der modernen Forschung (verblüffender Weise wie schon von Darwin) Arten nicht mehr als reale Objekte, sondern als subjektive Gebilde (»Konstrukte«) betrachtet [10]. Pointiert formuliert: Eine Art ist das, was ein Spezialist dafür hält. Von solchen Entwicklungen will Mayr nichts wissen und Kollegen, die sich an neuen Definitionen und Konzepten versuchen, bezeichnet er wie folgt: »Das sind Idioten. (...) Die Leute sind ungebildet, sie kennen die Literatur nicht, sie verstehen die Sachen nicht. Sie wollen nur Neues machen, damit sie berühmt werden« [6]. Bei allem Respekt vor seiner Lebensleistung möchte man hinzufügen, dass dies in Sachen Artbegriff auch eine Selbstcharakterisierung gewesen sein könnte.

Mayrs Irrtum

Mayrs zweiter wichtiger Beitrag zur Evolutionsbiologie die Hervorhebung der Bedeutung der geographischen Isolation von Populationen für die Bildung der Artenvielfalt. Nach Mayr wird durch eine geographische Barriere (Gewässer, Wüste, Gebirge etc.) der genetische Austausch zwischen zwei Populationen einer Art unterbunden; so häufen sich schließlich so viele genetische Unterschiede an, dass sich die beiden Populationen auch beim Wegfall der Barriere nicht mehr erfolgreich paaren können. Dieser auch »allopatrische Artbildung« genannte Mechanismus war nicht wirklich neu. Mayr war aber aufgrund seiner hervorragenden feldbiologischen und taxonomischen Kenntnisse in der Lage ihn mit vielen Beispielen zu unterstützen [13]. In der Folge wurde er nicht nur von Mayr und seinen vielen Schülern, sondern auch in allen Lehrbüchern als der dominante, wenn nicht gar einzige Mechanismus der Artbildung propagiert. So entstand der Mythos, dass Mayr das Rätsel der Bildung der Artenvielfalt gelöst und Darwins Werk vollendet hätte [z. B. 14]. Tatsächlich hatte sich Darwin bereits in seinen frühen Arbeiten mit der Bedeutung der geographischen Isolation für Artbildung auseinander gesetzt, bevor er später zu der Auffassung gelangte, dass sich Arten ohne Barrieren vor allem durch ökologische Spezialisierung bilden [15]. Von Mayr wurde eine »sympatrische Artbildung«, d. h. ein Entstehen neuer Reproduktionsgemeinschaften ohne erkennbare geographische Barrieren vehement abgelehnt. Mit kaum belehrbarem Altersstarrsinn bekämpfte er diese Form der Artbildung auch dann noch als sie durch empirische Untersuchungen zweifelsfrei bewiesen wurde. Als Motor für die sympatrische Artbildung konnten u. a. die ökologische Spezialisierung, die sexuelle Selektion, die Hybridisierung und genetische Einflüsse festgemacht werden. Erstaunlicherweise auch hier viele Faktoren, die bereits Darwin in Erwägung gezogen hatte. Dagegen hat Ernst Mayr, der »Darwin der 20. Jahrhundert«, erst in den letzten Jahren widerwillig eingeräumt, dass es auch sympatrische Formen der Artbildung gibt [16].

Punk-Eck oder Peripatrie

Wie Darwin war Mayr ein sturer Verfechter der graduellen Evolution. Diese Sicht wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhundert von Genetikern wie z. B. William Bateson oder Hugo DeVries infragegestellt. Sie glaubten, dass sich Arten sprunghaft verändern, während durch die natürliche Selektion maximal geographische Varianten entstehen würden. Dagegen vertraten Mayr und andere Architekten der »Modernen Synthese« die Auffassung, dass sowohl Mikro- als auch Makroevolution durch eine allmähliche Anhäufung kleinster Mutationen in (isolierten) Populationen erklärt werden könnten. In 1972 veröffentlichten die Paläontologen Niles Eldredge und Stephen Jay Gould ihre Theorie des durchbrochenen Gleichgewichtes (punctuated equilibrium). Die Veröffentlichung wurde in der Folgezeit zu einer der am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Artikel. In Anpassung an den paläontologischen Befund, der sprunghafte Veränderungen bei Fossilien zeigt, behaupteten sie, dass die Evolution ein inkonstantes Tempo hat. Kurze Intervalle schneller Evolution würden von weitaus längeren Perioden ohne evolutionäre Veränderungen unterbrochen. Die beschleunigte Evolution würde in kleinen isolierten Populationen stattfinden, in denen sich vorteilhafte Varianten schnell durchsetzten. Mayr bekämpfte diese Idee, die sich sogar anmaßte, die »Evolutionäre Synthese« infrage zustellen, ein Vierteljahrhundert lang aufs schärfste [17]. Dann änderte er seine Meinung drastisch und behauptete, dass Gould und Eldredge nur sein bereits 1954 veröffentlichtes Modell der »peripatrischen Artbildung« aufgegriffen hätten. Mayr hat rückblickend immer wieder beklagt, dass er nicht als Ideengeber zitiert wurde [z. B. 6]. Wir wollen hier nicht entscheiden, wem die Urheberschaft für das Modell gebührt, denn vermutlich ist es falsch: So konnten entgegen den theoretischen Erwartungen bei molekulargenetischen Untersuchungen von kleinen Vogelpopulationen, die von Australien auf pazifische Inseln migriert waren, keinerlei sprunghafte genetische Veränderungen festgestellt werden [18].

Das Organisch-Unverständliche

In alteuropäischer Tradition ist Mayr sein Leben lang ein Naturforscher geblieben, der das mysteriöse, undurchdringliche, nichtdeterminierte Wesen der Natur betont hat [2]. Er war überzeugt, dass man sich dem »Organisch-Unverständlichen« der Natur nur über konkrete Erfahrung im Feld nähern konnte: »People without that naturalist experience don't have that feeling. They don't know species« [19]. Als traditionell ausgebildeter Ornithologe hatte er eine tiefe Abneigung gegen Mathematik und Physik. So verunglimpfte er die frühen mathematischen Annäherungen von Sewall Wright, John B. S. Haldane und Ronald A. Fisher an die Populationsgenetik als simplifizierende »beanbag genetics« (Bohnensack-Genetik). Auch den molekularbiologischen Arbeiten des Mikrobiologen Carl R. Woese, der in der Fachwelt außerordentlich viel Aufsehen erregte, als er in den 1970er Jahren eine frühe RNA-Welt postulierte und dem Stammbaum der Lebewesen eine neue Domäne (Archaebakterien) hinzufügte, stand er sehr ablehnend gegenüber: »Woeses Problem ist generell, und da bleibt er Physiker, dass er für alles immer nur eine Antwort haben will, während wir Naturkundler wissen, dass es für biologische Probleme oft eben zwei, drei, vier richtige Antworten geben kann« [6]. Hier und nicht nur hier irrte Mayr, denn für evolutionsgeschichtliche Ereignisse, wie z. B. die Entstehung des Zellkerns der Eukaryonten kann es zwar mehrere Hypothesen, aber nur eine historisch richtige Antwort geben. Um die Besonderheit der Biologie herauszustellen, ging Mayr aber noch weiter und behauptete, dass die ganze Wissenschaftstheorie von den Kuhnschen Paradigmenwechseln bis zu den Popperschen Falsifizierungen auf die Biologie nicht anwendbar ist [20]. Er begründete dies damit, dass die Biologie im Unterschied zur Physik keine Gesetze, sondern nur Prinzipien kenne. Das wird heute allgemein als Unsinn betrachtet, weil auch die Biologie Gesetze hat. Diese sind mathematisch nur etwas unschärfer gefasst, da sich die Biologie mit einer komplexeren Abstraktionsebene als die Physik beschäftigt. Die Biologie nimmt daher keine Sonderrolle ein, sondern hat bei ihrer Erkenntnissuche mit den selben Problemen wie andere Naturwissenschaften zu kämpfen.

Anschluss verloren

Mayr idealisiert seine Karriere als Wandel vom Ornithologen zum Evolutionsbiologen, zum Biologiehistoriker und schließlich zum Biologiephilosophen. Tatsächlich konnte er in den letzten 30 Jahren der rasanten Entwicklung der biologischen Forschungsmethoden und dem rapiden Erkenntniszuwachs nicht mehr folgen. Als durch und durch holistischer Denker hat er weder zur molekularen Entwicklungsgenetik und molekularbiologischen Rekonstruktion der phylogenetischen Verwandtschaftsbeziehungen noch zur Neutralitätstheorie des japanischen Genetikers Motoo Kimura, die inzwischen die Vorstellungen über den Ablauf der molekularen Evolution dominiert, einen Zugang gefunden. (Die Neutralitätstheorie besagt, dass die meisten Mutationen selektionsneutral sind und daher durch Zufallsprozesse in Populationen fixiert werden). Stattdessen hat er sich immer häufiger (und in ziemlich unerträglicher und dummer Weise) zu bioethischen Fragen (Klonen, Geburtenregelung, Eugenik etc.) geäußert [21]. Darüber hinaus hat er jede Gelegenheit genutzt, die höheren Abstraktionsebenen der Mikrobiologie oder Biochemie zum natürlichen Feind der Biologie zu erklären. Sein Credo lautete: »Die Biologie ist keine zweite Physik« [z. B. 4]. Mayr befürchtete, dass nur noch DNA-Sequenzen und Basenaustäusche bestimmt und analysiert werden, ohne ins Feld zu gehen oder nach dem adaptiven Wert zu fragen [7]. Kurz: Für ihn geriet das Ganze und Besondere der Biologie aus dem Blickfeld. Alternativ propagierte er eine an den Vitalismus des frühen 19. Jahrhunderts erinnernde Biologie, in der seine betagte naturalistische Sicht auf die biologischen Rätsel dieser Welt noch einen gewichtigen Platz hat. Es stärkt nicht das Vertrauen in den Wissenschaftsbetrieb, dass der bis zum Schluss umtriebige Mayr damit Erfolg hatte. Generationen von Studenten mussten (und müssen) seine dogmatischen, in Lehrbüchern zementierten Vorstellungen vom biologischen Artbegriff und von der Artbildung durch geographische Isolation pauken. Mayr hat wesentlich dazu beigetragen, dass weithin die Auffassung besteht, dass die grundsätzlichen Probleme der Artbildung gelöst sind. Die öffentliche Wirkung seines ersten Buches aus dem Jahre 1942 kommentierte er wie folgt: »Sie [die Leute; G.M.] haben das Buch gelesen und es wurde ihnen plötzlich vollkommen klar, wie Arten entstehen« [6]. In Wirklichkeit ist die moderne Evolutionsbiologie erst gerade dabei, das Ausmaß der Probleme zu erfassen.

Tragische Figur

Mayr hatte schlechthin zu allen Problemen, die in der Evolutionsbiologie umstritten waren, eine explizite Meinung. Er stellte sie stets provokativ als kategorischer Imperativ in den Raum, so dass er immer wieder in polemische Infights verstrickt war [3]. Er war zweifelsfrei ein mächtiges Individuum im Wissenschaftsbetrieb. Leider hat er nicht bedacht, dass solche Individuen dem wissenschaftlichen Fortschritt am meisten dienen, wenn sie versuchen, ihn nicht zu verhindern. In seiner selbstgewählten Rolle als unermüdlicher Apostel Darwins ist er in seinen letzten Lebensjahrzehnten immer mehr zu einer tragischen Figur geworden: »I'm an old-time fighter for Darwinism. I say, "Please tell me what is wrong with Darwinism. I can't see anything wrong with Darwinism"«, sagte er 1991 in einem Interview mit der »Harvard Gazette« [22]. Aus Respekt vor seinem hohen Alter, seiner enormen Lebensleistung oder auch seinem großen Einfluss mochte ihm niemand die Wahrheit sagen. Und die lautet, nach einem berühmten Satz Poppers, dass der ideale Wissenschaftler für die Falsifikation seiner Theorien lebt. Ein wirklich großer, alternder Wissenschaftler verfällt daher nicht in die Methode der »Halsstarrigkeit«, wenn er zusehen muss, dass eine jüngere Generation von Wissenschaftlern seine bevorzugten Lösungsstrategien vom Tisch fegt, sondern betrachtet dies mit milder Würde. Dazu war Mayr selbst im hohen Alter aufgrund seines überentwickelten Egos nicht fähig. Dies spiegelt sich noch in dem anmaßenden Titeln »Das ist Biologie« und »Das ist Evolution« seiner letzten Bücher wider, die einen nicht einlösbaren Anspruch suggerieren. Wir sollten ihn daher als einen Evolutionsbiologen in Erinnerung behalten, der ohne Zweifel und bis zum Lebensende ein guter Ornithologe geblieben ist [23].

Literatur

[1] Meyer, Axel (2002): »Ernst Mayr ist wahrlich der Darwin unserer Zeit«. - In: Ärzte-Zeitung Nr. 124

[2] Schwägerl, Christian (2005): »Ernst Mayr - Der Zusammendenker«. - In: FAZ vom 06.02.05

[3] Markl, Peter (2005) »Ein großer Liebhaber der Natur«. - In: Wiener Zeitung vom 08.02.05

[4] Amberger, Madeleine (2004): »Die Biologie ist keine zweite Physik« - Interview mit Ernst Mayr. - In: Die Welt vom 03.07.04

[5] Bock, Walter J. (2004): »Ernst Mayr at 100 - A life inside and outside of ornithology«. - In: The Auk 121 (3), 637-651

[6] Friebe, Richard (2003): »Die Macht des Zufalls« - Interview mit Ernst Mayr. - In: www.netzeitung.de vom 17.06.03

[7] Meier, Christoph (2004): »Der Jahrhundert-Biologe«.- In: www.ethlife.ethz.ch (Webzeitung der ETH Zürich) vom 05.07.04

[8] Meyer, Axel (2005): »Der Meister des Warum«. - In: Die Zeit (7)

[9] Mayr, Ernst & Ashlock. P (1991): Principles of Systematic Zoology, revised ed. - New York

[10] Kunz, Werner (2002): »Was ist eine Art?« - In: Biologie in unserer Zeit 32 (1), 10-19

[11] Anonymous (2005): »Ernst Mayr - Veteran biologist who synthesised Darwin's theory of evolution and Mendel's theory of heredity«. - In: Timesonline vom 07.02.05, www.timesonline.co.uk

[12] Lönnig, Wolf-Ekkehard (1993): »Artbegriffe, Evolution und Schöpfung«. - Köln

[13] Marren, Peter (2005): »Obituary - Ernst Mayr«. - In: The Independent (London) vom 10.02.05

[14] Meyer, Axel (2002): »Das Rätsel, das Darwin der Nachwelt überließ«. - In: FAZ vom 05.07.02

[15] Weber, Thomas P. (2002): »Darwinismus«. - Frankfurt/M.

[16] Mayr, Ernst (2004): »80 Years of Watching the Evolutionary Scenery«. - In: Science 305, 02/07, 46-47

[17] Meyer, Axel (2005): »Alles Leben im Lichte der Evolution sehen«. - In: FAZ vom 09.02.05

[18] Clegg, Sonya M. et al. (2002): »Genetic consequences of sequential founder events by an island-colonizing bird«. - In: Proc. Natl. Acad. Sci. USA 99 (12), 8127-8132

[19] Bahls, C. (2003): »Darwin's disciple«. - In: The Scientiest vom 17.11.03

[20] Mayr, Ernst (2000): »Das ist Biologie«. - Heidelberg/Berlin

[21] Bahnen, Achim (1998): »O wie schön ist Singapur - Ernst Mayrs Lebenslehre«. - In: FAZ vom 06.10.98

[22] Bradt, Steve (2005): »Ernst Mayr, giant among evolutionary biologists, dies at 100«. - In: Harvard University Gazette vom 04.02.05

[23] Mayr, Ernst & Diamond, Jared (2001): »The Birds of Northern Melanesia«. - Oxford University Pres

[24] Mayr, Ernst (1999, zuerst 1942): »Systematics and the Origin of Species from the Viewpoint of a Zoologist«. - Havard University Press

G.M., 20.04.05

 

»Apostel Darwins«

Ernst Mayr in 1994 nach dem Erhalt der Ehrendoktorwürde in Philosophie von der Universität Konstanz.

»Was ich gemacht habe, ist eine Definition der »biologischen Art« vorzuschlagen, die so gut ist, dass kein Mensch sie hat verbessern können.« (Ernst Mayr 2003)

»Man hat mich einmal gefragt, wer die Nummer zwei sei. Das brachte mich in Verlegenheit. Denn offen gestanden: Da ist niemand, der mir sehr stark Konkurrenz macht.« (Ernst Mayr 2004)


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