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›Leicht ramsnasige Camargue-Schädel‹ – Über die weißen Pferde des Meeres

Wer hätte gedacht, dass sich dieses urwüchsig anmutende, schmutzig braune Fohlen, zu einem der berühmten weißen Pferde der Camargue entwickelt. (Quelle: Manade REINARD André)

Auf dieses malerische Foto eines urwüchsigen Pferdchens bin ich kürzlich bei einer Internetrecherche aufmerksam geworden. Es zeigt das etwa einjährige Fohlen ›Utopie de l’Aire‹, das 2008 in dem 1973 gegründeten Wildgestüt ›La manade d’André Reinard‹ in der Camargue geboren wurde. Camargue-Pferde sind, wie alle Schimmel, bei der Geburt farbig und hellen erst mit zunehmendem Alter auf. Nur die ausgeprägt weißen Augenringe weisen daraufhin, das aus den dunkelbraun bis schwarzen Fohlen später einmal Schimmel werden. Mit etwa 10 Jahren sind sie vollkommen weiß und werden dann als ›Die weißen Pferde des Meeres‹ das touristische Markenzeichen der Region Camargue im Mündungsdelta der Rhône.

Camargue-Pferde haben einen kompakten Körperbau, einen kurzen Hals, eine üppige Mähne und einen schweren großen Kopf mit breiter Stirn (›Camargue-Schädel‹). Die Nasenpartie ist leicht aufgewölbt (›ramsnäsig‹).Der Rücken ist kurz bis mittellang und meist ausgesprochen gerade. Mit einer Größe von 135-145 cm sind sie von ihrem Stockmaß her eigentlich keine Pferde, sondern (Endmaß-)Ponys. Sie haben überdurchschnittlich große Hufe, die ein schnelles Einsinken im Sumpf verhindern. Trotz ihrer großen Nüstern können sie die jungen saftigen Triebe von Schilfgräsern unter Wasser abgrasen. Ob ihnen das durch eine spezielle Atemtechnik – oder wie allgemein angenommen – durch Verschließen der Nüstern gelingt, wird gelegentlich strittig diskutiert.

Wildpferde sind Tiere offener und halboffener Landschaften, wie Steppen, Grasländer oder auch parkähnlich bewaldeter Landschaften. Solche Landschaften sind nach der letzten Eiszeit in Mitteleuropa aus klimatischen Gründen weitgehend verschwunden. Zudem wurden die dichter bewaldeten Ersatzlandschaften im Laufe der Zeit immer intensiver besiedelt und bewirtschaftet. Restbestände der Wildpferde wurden in unwirtliche Sümpfe zurückgedrängt und mussten sich an das Leben in feuchten Niederungen, wie dem Rhône-Delta oder auch dem Emscherbruch anpassen. Inn welchen Umfang sich in diese Bestände verwilderte Hauspferde (z. B. entlaufene Kavalleriepferde) eingekreuzt haben, oder ob sie sich, wie von den »Emscherbrücher Dickköppen« vermutet, fast vollständig aus verwilderten Hauspferden rekrutierten, sind strittig diskutierte Fragen.

Das Camargue-Pferd hat sich aufgrund seiner harten Lebensbedingungen in den Sümpfen und kargen Weiden des Rhône-Deltas zu einer sehr widerstandsfähigen und genügsamen Rasse entwickelt. Im Sommer herrscht in der Camargue große Hitze, in den übrigen Jahreszeiten sind die Pferde ständig kaltem, feuchtem, oft salzigem Boden ausgesetzt. Hinzu kommt, dass in mehr als der Hälfte des Jahres ein kalter Fallwind, der Mistral, aus nordwestlicher Richtung weht. Ihr charakteristisches weißes Fell soll eine Anpassung an die Umweltbedingungen sein, wird aber auch von den Züchtern selektiert: Es reflektiert die Sonnenstrahlen und ist für Mückenschwärme wenig attraktiv. Im Winter wird das feine, kurze Sommerfell durch ein kräftiges, volles Fell ersetzt.

Seit Jahrhunderten leben die Camargue-Pferde in den Sümpfen des Rhône-Deltas mit den schwarzen Stier- und Rinderherden zusammen. Im Laufe der Zeit haben sie einen Cow Sense entwickelt. Sie zeigen viel Geschick im Umgang mit den Rinderherden und haben einen guten Spürsinn für verloren gegangene Rinder. Zudem zeigen sie wenig Furcht vor den z. T. aggressiven Stieren, die ähnlich wie Spanien und Portugal als Kampfstiere eingesetzt werden. Die provenzalische Form des Stierkampfes verläuft allerdings unblutig. Für die Gardians, die berittenen Hüter der Viehherden Südfrankreichs, sind diese wendigen und selbstständig arbeitenden Tiere ideale Gebrauchspferde. Wegen ihres kräftigen Körperbaus können sie trotz ihrer geringen Größe problemlos einen erwachsenen Mann tragen.

Ein Gardian treibt auf seinem weißen ›Cheval Camargue‹ schwarze Kampfstiere vor sich her. In der Hand hält er eine Lanze aus Eschenholz, die mit einer dreizackigen Eisenspitze bestückt ist. Sie dient dazu, besonders aggressive Stiere auf Distanz zu halten und Jungstiere umzuwerfen, die mit einem Brandzeichen markiert werden sollen.

Die Herkunft der Camargue-Pferde liegt im Dunkel der Geschichte, zumal es sich um eine sehr alte Pferderasse handelt, die schon sehr lange im Rhône-Delta lebt und noch deutliche Anzeichen einer Wildpferdeabstammung zeigt. Z. B. haben die Fohlen einen längs der Wirbelsäure verlaufenden schwarzen Aalstrich und einen starken Bartwuchs. Zudem soll das Camargue-Pferd Ähnlichkeiten mit Wildpferden haben, die auf jungpaläolithischen Höhlenmalereien in Lascaux dargestellt sind. Ferner soll seine Anatomie Übereinstimmungen mit dem prähistorischen Solutré-Pferd zeigen. Dieses Wildpferd kennt man von zahlreichen Skelett-Funden am Fuße des berühmten Kalkfelsen ›Roche du Solutré‹ im Burgund etwa 300 km nördlich des Rhône-Deltas. Das Solutré-Pferd war zwar kleiner und hatte ein hellbraunes zottiges Fell, besaß aber wie das Camargue-Pferd einen großen kantigen Kopf. Um in die Sümpfe der Camargue zu gelangen, hätte es einige hundert Kilometer entlang der Flusstäler von Saône und Rhône wandern müssen.

Dort blieb es mit Sicherheit nicht unbeeinflusst von anderen Pferderassen. Ohne allerdings zu einem belastbaren Ergebnis zu kommen, wird über Einkreuzungen mit nordafrikanischen Berbern, arabischen Vollblütern, iberischen Wildpferden, Pferden keltischen und germanischen Ursprungs oder sogar der mongolischen Steppen spekuliert. Nur eine ältere, nationalistische Theorie geht davon aus, dass es sich beim Camargue-Pferd um eine indigene Rasse des Rhône-Deltas handelt. Alle seine Rassemerkmale seien von spezifischen Lebensbedingungen geprägt worden, die für das Kerngebiet der Camargue typisch sind. Einen Einfluss ›fremden Blutes‹ habe es nicht gegeben. Am besten belegt erscheint mir, in dieser ausgesprochen geschwätzig-spekulativen Diskussion, noch der Einfluss der von den Mauren eingeführten Berber. Der hat sich nicht nur in der Natur der Pferde niedergeschlagen, sondern auch in der Kultur, also im Sattelzeug und den Pferdekenntnissen der französischen Gardians überliefert.

Am Fuße des Kalkfelsen ›Roche de Solutré‹ wurden Knochen von über 100.000 Pferden gefunden. Bis in jüngster Zeit glaubte man, dass sie von Wildpferdeherden stammen, die von prähistorischen Jägern über die schroffen Felsenklippen in den Abgrund getrieben wurden. Doch dies ist nur eine populäre Legende. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Archäologen Adrien Arcelin, der die Pferdeknochen entdeckte, in einem Roman verbreitet. Noch bis ins späte 20. Jahrhundert wurde sie immer wieder literarisch und vor allem malerisch mit dramatischen Illustrationen ausgeschmückt. Erst neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Knochen viel zu weit von den Klippen entfernt liegen und nicht die für Stürze typischen Brüche aufweisen. Heute vermutet man, dass die steinzeitlichen Jäger den Herden wandernder Wildpferde alljährlich am Fuße dieses Felsen aufgelauert haben, um sie mit Speeren oder Steinen zu erlegen.

Das Camargue-Pferd ist bis heute ein recht urtümliches Pferd geblieben, hat aber schon früh die Aufmerksamkeit der Kulturen auf sich gezogen, mit denen es in Berührung gekommen ist. Schon die Phönizier kannten es und in der Antike wurde es zunächst von den Kelten und später von den römischen Eroberern wegen seiner Schnelligkeit, seiner Ausdauer und seinem Mut geschätzt. Die Römer sollen sogar in Arles – in dessen Gemeindegebiet die Camargue heute liegt – Gestüte eingerichtet haben, um die Rasse gezielt, für die bei ihnen beliebten Pferderennen und für kriegerische Zwecke zu züchten. Damals sollen sich die weißen Pferde der Camargue sogar zu einem Exportschlager im gesamten Mittelmeerraum entwickelt haben. Doch damit nicht genug, ihr Ruhm soll sich bis nach China verbreitet haben.

Auf der Website des begeisterten Camargue-Pferdezüchters Bernhard F. Franke, der Wert darauf legt, ein Idealist zu sein, liest sich das so:

»Der Ruhm dieser Pferde war nämlich bis ins ferne China bekannt geworden. Damals hatten die chinesischen Kaiser begonnen, den riesigen asiatischen Kontinent im Westen erforschen zu lassen. Dabei stießen ihre Abgesandten in Zentralasien auch auf einige weiße Pferde, die dort als ›exotische‹ Wesen gehalten wurden. In Ostasien kannte man solche Tiere nicht und die kaiserlichen Abgesandten berichteten von ihnen und auch von ihrer Verwendung als Reitpferde. Die Chinesen kannten bis dahin nur die langsam schreitenden Kamele aus Vorderasien.

Diese schnellen, weißen ›Renner‹ waren also etwas völlig Neues in China und die kaiserlichen Generäle kamen auf die Idee, mit diesen schnellen Tieren eine sehr bewegliche Reitertruppe aufzustellen, also eine Kavallerie-Truppe, wie sie bereits die Römer kannten und die auch bis ins späte Mittelalter die Heere Europas und der Mongolei nachhaltig prägten.

Trotz der konservativen Haltung des chinesischen Kaiserhauses führte das Drängen der Generäle schließlich zu einer großen Expedition quer durch Asien bis in die Camargue, welche damals Teil des römischen Reiches war. Das Gebiet wurde damals wie bis ins ausgehende Mittelalter als ›Aquitanien‹ bezeichnet. Dort erwarben die chinesischen Abgesandten über tausend Camargue-Pferde und überführten diese in einer riesigen Karawane über die bekannte Seidenstraße bis nach China. Als die Pferde dort eintrafen, war die Bewunderung der Chinesen grenzenlos. Sie nannten fortan diese Pferde in ihrer blumigen Sprache ›fliegende Wesen‹ und ›himmlische Wesen‹.

Noch heute sind diese Bezeichnungen bei den Chinesen bekannt. So lauten die Zeilen eines Epos in der chinesischen Poesie wie folgt:

›Die himmlischen Wesen kommen,
sie kommen aus dem fernen Westen –
durch grasloses Land sind sie gelaufen,
um gen Osten zu gelangen –
den fließenden Sand haben sie durchquert,
tausend Li haben sie zurückgelegt – …‹

1936 berichtete der bekannte Forscher und Abenteurer Sven Hedin in seinem Buch ›Die Seidenstraße‹ erstmals darüber. Auch wurde 1972 in Paris eine kleine Bronzestatue eines Camargue-Pferdes ausgestellt, die 1969 in der Wüste Gobi ausgegraben wurde. Sie zeigt ein ›Camargue-Pferd‹ auf einer fliegenden Schwalbe mit einem Huf balancierend. Diese Ausstellung wurde in kurzer Zeit von nahezu 600.000 Besuchern besucht, welche ‹ihr Camargue-Pferd‹ in Bronze aus dem alten China bewundern wollten.«

Diese auf den ersten Blick plausibel erscheinende Geschichte hat einen gravierenden Haken, denn so gut wie nichts an ihr hält einer näheren Prüfung stand:

Die Camargue wurde von der Zeit der römischen Besetzung bis ins ausgehende Mittelalter nicht als ›Aquitanien‹ bezeichnet. Die römische Provinz Aquitania lag nicht östlich der Pyrenäen und grenzte auch nicht ans Mittelmeer, sondern nördlich der Pyrenäen und grenzte an den Atlantik. Ihre Hauptstadt war Burdigala, das heutige Bordeaux. Die Camargue war dagegen Teil der Provinz Narbonensis mit der Hauptstadt Masillia, dem heutigen Marseille. Im späten Mittelalter gehörte die Camargue zu Krondomäne Languedoc und zur Grafschaft Provence.

Der chinesische Kaiser Wu-ti (156 – 87 v. Chr.) hatte den asiatischen Kontinent zwar nach Westen, aber nicht bis an die Grenzen oder gar ins Kernland des Römischen Reiches erforschen lassen. Zielgebiet der Expeditionen war das in Mittelasien gelegene Ferghana-Tal. Das Kerngebiet des Tales gehört heute zu Usbekistan, Randbereiche zu Kirgisien und Tadschikistan. Das Römische Reich erstreckte sich damals entlang der Küsten des Mittelmeers mit Kleinasien als östliche Grenze. Es lag somit einige Tausend Kilometer vom westlichsten Punkt der chinesischen Expeditionen entfernt.

Die Chinesen kannten im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nicht nur langsam schreitende Kamele, sondern ihre Kavallerie verfügte schon über kleine robuste mongolische Steppenpferde. Da sie von der gleichen Rasse waren, wie die der immer wieder von Norden eindringenden Hunnen, konnten diese nicht wirksam bekämpft werden. Als die ins ferne Ferghana-Tal entsandte Expedition bei ihrer Rückkehr berichtete, dass es dort eine größere, schlankere und schnellere Pferderasse geben würde, erkannte der Wu-ti sofort deren strategische Bedeutung.

Bei diesen edlen Pferden handelte es sich nicht um die eher kompakten Camargue-Pferde, sondern um Achal-Tekkiner, eine schlanke Pferderasse mit langen sehnigen Beinen und einem falb- bis goldfarbenen kurzem seidigem Fell. Sie sind dafür berühmt, auch unter extremsten Bedingungen über eine enorme Leistungsbereitschaft zu verfügen. Weil sie hitzetolerant, leichtfüßig und ausdauernd sind, werden sie als ›Windhunde unter den Pferden‹ bezeichnet. Sie sind keine Pferde der Sümpfe, sondern der Wüste.

Der edle Achal-Tekkiner ist eine alte turkmenische Pferderasse. Er gilt als drittes Vollblut und war vermutlich sogar an der Herausbildung der vollblütigen Pferde auf der Arabischen Halbinsel beteiligt. Ein französischer Konsul berichtete Anfang des 19. Jahrhundert über sie (zitiert nach »Das Achal-Teke-Pferd« von J. E. Flade): »Unter den turkomanischen Pferden nehmen die vom Stamme Tekeh die erste Stelle ein…Diese Pferde …. ertragen Entbehrungen und Beschwerden leichter und sind flüchtiger als alle bekannten Pferde, sind voller Feuer, Muth und Intelligenz, wenn man mit ihnen vernünftig umgeht, und begnügen sich mit so Wenigen, daß sie mit einem bescheidenen Maß Gerste tagelang dauernde Märsche aushalten.«

Als Kaiser Wu-ti in den Besitz dieser eleganten schnellen Wüstenpferde gelangte, war er von ihnen so angetan, dass er ihnen ein Gedicht widmete. Darin bezeichnete er sie als himmlische Wesen, die aus dem fernen Westen durch karges Land und große Wüsten nach China gekommen sind. Er sprach ihnen übernatürliche Eigenschaften zu, wie die Fähigkeit ›Blut zu schwitzen‹. Dieser Glaube kommt daher, dass ihnen in ihrer Heimat sogar im Sommer dicke Decken aufgelegt wurden, um jedes überflüssige Fett und Wasser durch ihre ohnehin dünne Haut auszuschwitzen.

Über die 1969 in Wuwai am Rande der Wüste Gobi gefundene Bronzestatue aus der späten Han-Dynastie habe ich hier schon berichtet. Sie zeigt ein dahin stürmendes Pferd, das mit einem Fuß auf den Rücken einer Schwalbe tritt. Der begeisterte Camargue-Pferdezüchter behauptet auf seiner Website, dass diese Bronzefigur einen ›weißen Renner‹ der Camargue darstellt. Mit dieser Meinung steht er wohl allein, denn die Experten sind davon überzeugt, dass das Vorbild für diese Statue eine mit eingeführten Wüstenpferden veredelte, alte chinesische Pferderasse war.

Als Gewährsmann für seine Darstellung führt Bernhard F. Franke den berühmten schwedischen Geographen und Asienforschern Sven Hedin an. Der habe 1936 in seinem Buch »Die Seidenstraße« erstmals von der Expedition einer chinesischen Gesandtschaft in die Camargue und der Überführung der ›weißen Renner‹ nach China berichtet. In dem gesamten Werk Hedins habe ich keinen einzigen Beleg für diese abenteuerliche Geschichte gefunden. Stattdessen ist im Kapitel 18. »Die Seidenstraße« Folgendes zu lesen:

»Im Jahre 138 vor Christi Geburt sandte der große Kaiser Wu-ti aus der älteren Handynastie eine Gesandtschaft von etwa hundert Mann unter Führung von Chang Chi’en zu den Yüehchih. Dieses Volk hatte sich in Ta-nüan, dem heutigen Ferghana, niedergelassen, nachdem es von den Hunnen nach Westen vertrieben worden war. Die Hunnen waren die gefährlichsten Feinde der Chinesen. Wu-ti wollte durch seine Gesandtschaft die Yüehchih Bundesgenossen gewinnen. Chang Ch’ien hatte aber keinen Erfolg. Er konnte nach vielen Abenteuern und nach zehn Jahren Gefangenschaft bei den Hunnen dem Kaiser einen Bericht vorlegen. Chang Ch’ien erzählte von Oasen und Völkern im heutigen Ostturkestan, von Wegen nach den Ländern des Westens, nach Indien und Persien. Er berichtete von gewaltigen Reichen, die sich bis zum kaspischen Meer erstreckten, und von hoch zivilisierten Völkern und großen Reichtümern. Derr Kaiser erkannte die Bedeutung dieser Reiche für den Handel Chinas und für die Ausbreitung seiner Macht nach Westen. Besonders fesselten ihn die Erzählungen von dem Dasein einer Art wunderbarer ›blutschwitzender‹ Pferde, die von übernatürlichen Hengsten und Stuten stammten.

Das Kerngebiet des Ferghana-Tales, wo eine vom chinesischen Kaiserhaus veranlasste Expedition die sagenhaften ›blutschwitzenden Pferde‹ entdeckte, liegt im heutigen Usbekistan. Das Tal liegt rd. 4.000 km von Chang’an, der Hauptstadt der älteren Han-Dynastie entfernt.

Des Kaisers Kavallerie hatte bisher nur kleine mongolische Steppenpferde geritten von der gleichen Rasse, die die Hunnen verwandten. Er meinte, mit blutschwitzenden Hengsten von Ta-nüan die einheimische Pferderasse veredeln zu können. Dadurch würde er eine Kavallerie erhalten, die der der Hunnen überlegen wäre, Wu-ti schickte also mehrere Gesandtschaften aus, die eine ausreichende Anzahl der edlen Pferde von Ta-nüan erwerben sollten. Sie kehrten jedoch alle unverrichteterdinge zurück. Schließlich rüstete der Kaiser eine neue Gesandtschaft aus. Sie nahm tausend Goldstücke und ein aus Gold gegossenes Pferd für den König von Ta-nüan mit Die Gesandten wurden gefangene genommen und nach geglückter Flucht unterwegs ermordet.

Als Wu-ti diese Schmach zu Ohren kam, beschloß er, blutige Rache zu nehmen. Er sandte ein Heer mit einer Reiterei von 6000 Mann nach Ta-nüan. Auf dem Marsch durch die wasserlose Wüste westlich von Tun-hwang kam aber ein großer Teil des Heeres um. Der Rest erreichte völlig ermattet Ta-nüan und wurde geschlagen. Nur ein Zehntel der ursprünglichen Macht kam lebendig nach Tun-hwang zurück.

Wu-ti entbrannte im höchsten Zorn und stellte eine neue Armee von 60.000 Mann, 30000 Pferden und einem großen Troß von Ochsen, Eseln, Karren und Kamelen auf. Die Hälfte dieses Heeres erreichte das Ziel und belagerte die Hauptstadt Ta-nüans. Der König und sein Volk mussten 30 blutschwitzende Pferde und außerdem 3000 Hengste und Stuten von edler Rasse ausliefern. Chinas Ansehen war wieder hergestellt. Der Kaiser konnte nun auch Gestüte zur Veredlung der chinesischen Pferderasse gründen.

Über diese beiden Feldzüge berichten die Annalen der Handynastie.«

Nach diesem Exkurs über den vermeintlich bis ins ferne China bekanntgewordenen Ruhm der Camargue-Pferde zurück zu ihrem Schicksal in ihrer südfranzösischen Heimat. Sie wurden nicht nur in der Antike, sondern noch bis ins frühe 20. Jahrhundert als Armeepferde eingesetzt. Um ihre militärische Verwertbarkeit zu steigern, wurden in staatlichen Deckstellen immer wieder großwüchsigere Pferderassen eingekreuzt. Dass sich trotz dieser intensiven Einflussnahme ein nahezu homogenes Erscheinungsbild der Camargue-Pferde erhalten hat, soll, wie Rainer Möldgen in seinem Beitrag »Das Camargue – Pferd« berichtet, vor allem zwei Gründe haben:

Erstens soll sich tief in den Sümpfen der Camargue versteckt [also dort wo man eigentlich nur noch mystische Sumpfwesen vermutet, :-)] immer eine kleine Population reinblütiger Camargue-Pferde als genetische Reserve erhalten haben. Und Zweitens gab es immer wieder Zeiten (zuletzt als 1930 die staatlichen Deckstellen zur Heranzüchtung von Armee-Pferden abgeschafft wurden), wo der Einfluss des Menschen geringer war und es in Ruhe gelassen wurde. In diesen Phasen soll es seine Eigenschaften als kompaktes und genügsames Robustpferd, das in einer wenig wirtlichen Umwelt überleben kann, durch harte Naturselektion wieder zurückgewonnen haben.

Möldgen bezeichnet diesen Vorgang mit dem bildhaften Ausdruck »Ausschwitzen von Fremdblut«. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, dass sich nicht nur im Volksmund, sondern auch in Fachsprachen oft die Wissenschaft von gestern überliefert. Früher war man bekanntlich davon überzeugt, dass sich die Eigenschaften von Tieren durch die Einkreuzung von Fremdblut beeinflussen ließen. Heute weiß jeder Fünftklässler – auch wenn er gerade mit seinem Tischnachbarn Blutsbrüderschaft geschlossen hat –, dass nicht die Vermischung mit fremdem Blut, sondern neue Genvarianten für die Entstehung von neuen Merkmalen verantwortlich sind.

Gerade in der Fachsprache von Pferdezüchtern hat sich die Rede vom merkmalsbildenden Faktor ›Blut‹ erhalten. Denken wir dabei nur an vertraute Begriffe wie Blutlinien oder Blutauffrischung, aber auch Kalt-, Warm-, Halb- und Vollblut, mit denen Abstammungen, Neueinkreuzungen, Rassen oder Temperamente beschrieben werden. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Allgemein neigen Vereinigungen dazu, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, in dem sie eine Sondersprache benutzen, die ihre Geschichte oder ihr Brauchtum tradiert. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die moderne Rede von der Vererbung von Genvarianten nicht nur weniger bildhaft, sondern auch losgelöst von der Geschichte der Herauszüchtung und Benennung der Pferderassen ist. Sie ist zwar fachlich korrekt, transportiert aber weniger Information.

Abschließend möchte ich der angeführten Begründung, warum sich trotz intensiver menschlicher Einflussnahme ein homogenes Erscheinungsbild der Camargue-Pferde erhalten hat, noch ein Argument hinzufügen. Wenn sie eine sehr alte, den Wildpferden noch nahestehende Pferderasse sind, dann verfügen, diejenigen ›Blutlinien‹, die sich der Züchtung für Zwecke jenseits der relativ naturnahen provenzalischen Kultur weitgehend entziehen konnten, noch über sehr viele ursprüngliche Gene. Und solche Wildformen von Genen erweisen sich, sobald der züchterische Einfluss nachlässt, gegenüber neu eingekreuzten Genen häufig als dominant. Züchterisch erwünschte naturferne Genvarianten, wie die für militärische Zwecke dienliche Großwüchsigkeit, beruhen in der Regel auf Defektmutationen also keinem Zuwachs, sondern einem Abbau von Informationen.

G.M., 05.08.2012

 

Utopie de l’Aire als etwa vierjaehrige Schimmelstute
(Q:Manade REINARD André)

Utopie de l’Aire Anfang 2012 schon deutlich aufgehellt als etwa vierjährige Schimmel-Stute. Man sagt, dass Tiere, die sehr spät aufhellen oder es nur bis zum Apfel-Schimmel bringen, keine reinblütigen Camargue-Pferde sind.

 
 


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