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Kolkraben sind Frühstarter: Bereits im Winter beginnen sie mit der Balz. Die monogamen
Tiere tollen dann gemeinsam durch die Lüfte, pflegen sich gegenseitig das Gefieder, kraulen
und füttern sich.1)
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Weibliche Kolkraben sind sehr stark von ihrem Partner abhängig, weil sie und ihre Nestlinge alljährlich mehr als einen
Monat gefüttert werden. Da Raben den Partner auf Lebenszeit wählen und über 20 Jahre alt werden können, sind sie sehr
wählerisch bei potenziellen Partnern. Dominante Männchen, die im Wettbewerb um Nahrungsressourcen gegenüber Mitbewerbern
die Oberhand haben, werden daher von den Weibchen bevorzugt. Für den amerikanische Pionier der Rabenforschung Bernd Heinrich
ist dies ein Grund mit dafür, dass jugendliche Single-Raben, die einen Kadaver finden, dies nicht verheimlichen, sondern
andere Raben herbeilocken, um in Konkurrenz zu ihnen, ihren Status bei den Weibchen zu erhöhen.2)
Ornithologisch sind Kolkraben (Corvus corax) Mitglieder der Krähenfamilie Corvidae. Die Corviden gehören zu den
Singvögeln, der jüngsten evolutionären Gattung der Passeriformes (Sperlingsvögel). Der Kolkrabe gilt als die Krönung der
Corviden und steht an der Spitze einen artenreichen und sich besonders schnell entwickelnden Vogelfamilie. Kein anderer
Vogel ist, geographisch und ökologisch in einem so außerordentlich großen Gebiet zu finden. Bernd Heinrich bringt es auf
den Punkt: »Er ist in der Gesellschaft von Eisbären und ihrer Beute in der hohen Arktis ebenso zu Hause wie im Gefolge der
Wolfsrudel in der kanadischen Taiga, fängt bei fünfzig Grad Eidechsen im Death Valley und fliegt über die höchsten Gipfel
in Tibet oder in Nord- und Mittelamerika.« Und ›natürlich‹ ist der Kolkrabe auch in verstädterten Gebieten angekommen.
Kolkraben sind schlau, mindestens so schlau wie unsere nächsten Verwandten die Schimpansen. Sie haben nicht nur ein
hervorragendes Gedächtnis, sondern setzen ihre Intelligenz für taktischen Betrug ein, wenn es z. B. darum geht, von ihnen
versteckte Nahrungsmittelvorräte vor Diebstahl durch Artgenossen zu schützen. Wenn sie überschüssiges Futter verstecken,
können sie ohne Hinzuschauen sehr gut abschätzen, ob sie beobachtet werden oder ob sie für einen Artgenossen im ›toten Winkel‹
stehen. Wenn sie sich beobachtet fühlen, merken sie sich nicht nur wer sie beobachtet hat, sondern sie täuschen sogar vor,
das Futter an einem anderen als den zunächst gewählten Platz zu verbergen, um Beobachter durch Scheinverstecke zu verwirren.
Aufgrund ihrer Intelligenz sind Kolkraben für allerlei Kabinettstückchen bekannt: Es gibt Berichte von Trappern, die gesehen
haben, dass sie sich, wenn sich ein Nahrungskonkurrent nähert, neben Kadavern plötzlich auf den Rücken drehen und tot stellen,
damit dieser meint, das Fleisch sei vergiftet. Sie suchen angelegte Vorratsdepots bewusst am falschen Ort, um dominantere
Artgenossen in die Irre zu führen. Sie platzieren Hirschknochen auf Eisenbahnschienen und kommen nach der Durchfahrt des Zuges
zurück, um das Knochenmark zu fressen. Banden aus jugendlichen Kolkraben sind bekannt für ihren Schabernack: Sie ärgern Hirsche,
indem sie ihnen in den Hintern picken, rodeln auf dem Rücken verschneite Hänge hinunter und lassen aus der Luft Schneebälle auf
Kollegen am Boden fallen.3)
Die außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten von Vögeln wurden über 100 Jahre von den Wissenschaften verkannt. Dies hängt
mit der auf Aristoteles zurückgehende Idee einer Scala Naturae zusammen, auf der Lebewesen progressiv nach dem Grad ihrer
vermeintlichen Perfektion angeordnet waren. Die Stufenleiter wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von dem deutschen Anatom und
Neurologen Ludwig Edinger (1855 – 1918) mit darwinistischen Evolutionsvorstellungen angereichert. Sie verlief von den
Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln zu den einfacheren Säugetieren und Primaten bis hin zum Menschen. Auf dieser
Stufenleiter zunehmender Perfektion rangierten die Vögel bezüglich ihrer Intelligenz weit hinter den niederen Säugetieren.
Da Vogelgehirne bei oberflächlicher Betrachtung abweichend von Säugetieren keine komplex gefaltete Großhirnrinde (›Blätterteigschichtung‹),
sondern einen ziemlich schlichten Aufbau zeigen, schien diese Stufenleiter, mit dem immer komplexer werdenden Aufbau des Gehirns
zu korrespondieren. Der Neuroanatom Edinger entwickelte daher die in vielen Schul- und Lehrbüchern bis heute verbreitete
Vorstellung, dass im Verlauf der Evolution ein urtümliches, für Instinkte zuständiges Reptilien- und Vogelgehirn, von einem für
Gefühle und primitives Lernen zuständigen Altsäugergehirn überlagert wurde, worauf schließlich ein Neusäugergehirn als abschließende
Krönung für logisches und intelligentes Verhalten folgte.
Diese Vorstellung ist schon deshalb falsch, weil Vögel evolutionsgeschichtlich eine erheblich jüngere Bildung als Säugetiere
sind. Zudem haben Experimente und Beobachtungen gezeigt, dass Vögel ein ebenso leistungsfähiges Großhirn wie Säugetiere haben.
Was bei den Säugetieren und dem Menschen die Hirnrinde im Bereich der Stirn, der sogenannte Präfrontalkortex ist, der als Sitz
von Denken und Intelligenz gilt, dem entspricht bei Vögeln eine Großhirnregion namens Nidopallium cauolaterale, kurz NCL. Der Bochumer
Biopsychologe Onur Güntürkün ist überzeugt, dass Präfrontalkortex und NCL in vielen Einzelheiten übereinstimmen oder in verblüffenden
Maß entsprechen: »Die neurochemischen Systeme, die anatomischen Verbindungen und die Art und Weise, wie Nervenzellen auf Außenreize
antworten.«
NCL und Präfrontalkortex sind allerdings nicht aus der gleichen Urstruktur hervorgegangen, sondern haben sich unabhängig voneinander
entwickelt. Dies erklärt sich nicht nur dadurch, dass Vögel und Säuger aus unterschiedlichen Reptiliengruppen entstanden sind,
sondern zeigt sich in der Lage dieser Gehirnstruktur: Das NCL liegt hinten und der Präfrontalkortex vorne im Großhirn. Das Wissen
um die Leistungsfähigkeit des Vogelgehirns hat sich noch nicht bei allen Wissenschaftlern herumgesprochen. Vor allem Säugetierexperten
glauben noch an die Überlegenheit, Modernität und Höherentwicklung der Primaten- gegenüber Vogelgehirnen. Kein Wunder, dass in vielen
Schul- und Lehrbüchern, die ja bekanntlich den wissenschaftlichen Konsens von gestern widerspiegeln, Primatengehirne noch als konkurrenzlos
dargestellt werden.
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Kolkraben haben eine ausgeprägte Körpersprache und einen erhabenen Ruf
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Der Biologe Josef Reichholf hat in seinem Buch »Das Rätsel der Menschwerdung« eine Theorie entwickelt, wie übergroße Gehirne,
wie es sie bei Primaten oder Rabenvögeln gibt, entstanden sein könnten. Er knüpft daran an, dass es im Gehirn im Verhältnis zu anderen Organen
einen besonders hohen Gehalt an Phosphorverbindungen gibt. Er glaubt daher, dass unsere Vorfahren Aasjäger waren, die Werkzeuge nicht vorrangig
entwickelt haben, um sich zu verteidigen, sondern um Kadaver zu öffnen4). Die Aasjägerei hat den Vorteil, dass man ohne große und gefährliche
Vorabinvestitionen relativ leicht an phosphathaltige Nahrung kommt, wie sie etwa in Gehirnen von Beutetieren oder in deren Knochenmark
enthalten ist. Für Reichholf ist es daher kein Zufall, dass gerade die Rabenvögel, die sich vorzugsweise von Aas ernähren, es zu einer
vergleichsweise ähnlichen Intelligenz wie die Primaten gebracht haben.
Sollte diese Theorie zutreffen, fragt sich, weshalb auf den Verzehr von Aas spezialisierte Geier weit weniger Intelligenz wie Rabenvögel
entwickelt haben. An der Nahrung allein kann es daher nicht liegen. Die führenden Experten glauben viel mehr, dass das wechselhafte Leben
der schmarotzenden Raben die Ursache dafür ist, dass sie über mehr verstand- als instinktgesteuertes Verhalten verfügen. Wer sich im Beisein
eines Räubers von Aas ernährt, muss lernen, wann dieser für ihn zur Gefahr wird. Ein fixes Verhaltensprogramm wäre der sichere Tod. Deshalb
haben Raben schon als Jungtiere das unwiderstehliche Verlangen, gefährliche Raubtiere zu ärgern und sich in der Kunst der Wendigkeit zu üben.
Hinzu kommt der ›kognitive Rüstungswettlauf‹ untereinander, d. h. Raben »haben eine lange Evolution von Spionage und Gegenspionage hinter sich,
in deren Verlauf sie zu Meistern des Täuschens und Ausbaldowerns wurden«. (vgl. Dworschak 2007)
Anmerkung
1) Willi Rolfes gewann mit dieser romantisch-winterlichen Szene den 1. Preis des EuroNatur-Fotowettbewerbs 2010.
2) Der Biologe Bernd Heinrich befasst sich in seinem Buch »Die Seele der Raben« mit der Lösung eines Rätsels.
Er hatte beobachtet, dass Kolkraben andere Artgenossen manchmal auf einen zufällig gefundenen Kadaver aufmerksam machen.
In seinem Buch, das er eine zoologische Detektivgeschichte nennt, versucht er die Frage zu beantworten, warum manche
Kolkraben andere Artgenossen rekrutieren, um sie auf ihren kostbaren Futterschatz aufmerksam zu machen und warum andere
dies nicht tun. Es gelingt ihm, in seinem spannenden Buch ein aufregendes biologisches Puzzle zusammenzusetzen.
3) Auch von anderen Rabenvogelarten sind außergewöhnliche Leistungen bekannt: Rabenkrähen werfen
Walnüsse auf die Straße, um sie von Autos knacken zu lassen. Matthias Plüss berichtet in seinem Artikel
»Die Affen der Lüfte« sogar, dass in Japan Krähen nachweislich Kreuzungen mit Ampeln bevorzugen, weil
sie während der Rotphase die Nüsse ungestört einsammeln können. In Lippstadt konnte ich letztes Jahr
erstmals beobachten, dass Rabenkrähen Walnüsse aus ca. 20 m Höhe wiederholt auf einen gepflasterten Parkplatz fallen
ließen, um sie zu knacken. Ich bin gespannt, ob sie diesen Trick im Herbst dieses Jahr weiterentwickeln und zu- und
abfahrende Autos in die Methode integrieren.
4) Auch Kolkraben tun sich schwer, Kadaver von Großtieren zu öffnen. Sie haben dieses Problem gelöst,
in dem sie z. B. Wölfe zu den Kadavern führen und sich mit ihnen die Beute teilen.
Literatur
Dworschak, Manfred (2007): Schmarotzen macht Raben schlau. – In: SPIEGEL ONLINE vom 04.04.2007
Güntürkün, Onur (2008): Wann ist ein Gehirn intelligent? – In: Spektrum der Wissenschaft, Nr. 1, S. 124-132
Heinrich, Bernd (1994, engl. 1989): Die Seele der Raben. – Frankfurt/M.
Plüss, Matthias (2007): Die Affen der Lüfte. – In: DIE ZEIT, Nr. 26
Reichholf, Josef H. (1998): Das Rätsel der Menschwerdung. Die Entstehung des Menschen im Wechselspiel der Natur. – Stuttgart
G.M., 26.04.2011