Vorbemerkung
Vor der Ankunft der Maori vor etwa 700 Jahren gab es in Neuseeland mit Ausnahme von drei
Fledermausarten (und einigen küstenbewohnenden Robben) keine Säugetiere. Stattdessen
dominierten etwa 250 Vogelarten die Ökosysteme. Die Abwesenheit von Säugetieren förderte
die Evolution vieler flugunfähiger Vögel, darunter die eindrucksvollen Moas. Deren größter
Feind war der Haastadler (Harpagornis moorei), der bis 15 kg schwer werden und eine
Flügelspannweite bis 3 m erreichen konnte.
Neuseeland hatte sich vor 80 Millionen Jahren, also 15 Millionen Jahre bevor die Dinosaurier
durch den endkreidezeitlichen Asteroidenimpakt ausgelöscht wurden und vor der Radiation der
Säugetiere zu Beginn des Tertiärs vom Superkontinent Gondwana getrennt. Die Evolution auf
der neuentstandenen Insel nahm daher einen ganz anderen Verlauf als sonst auf unserem Globus.
Der Naturforscher Jared Diamond hat die ursprüngliche Natur Neuseelands einmal
als »Die beste Annäherung an Leben auf einem anderen Planeten« bezeichnet.1)
Irritierende Beschaulichkeit
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»Ich hatte eine Farm. Ich hatte eine Farm in Neuseeland am Fuße der Südalpen.«
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Auf diese ausgesprochen idyllische Fotografie einer neuseeländischen Landschaft bin ich zufällig bei
einer Internetrecherche aufmerksam geworden. Die irritierende Originalunterschrift des
Merian-Leser-Fotos lautet: »Von wegen, in Neuseeland gibt es nur Schafe: Sascha Busch
fotografierte diese friedlich grasenden Rehe vor dem Panorama der Südalpen.« Warum irritierend?:
Zunächst grasten in dieser idyllischen Landschaft keine
Rehe,
sondern eindeutig Rothirsche.
Wenn es aber Hirsche waren, warum war dann auf dem Foto ein so außergewöhnlich großes Rudel
zu sehen und weshalb trug keines der Tiere ein Geweih? Und was hatte der Pfosten im Vordergrund,
der offensichtlich Bestandteil eines Zaunes war, zu bedeuten? Fragen genug für eine Internetrecherche,
deren Resultat auch für mich ziemlich überraschend war.
Ergebnis der Recherche
Wer hätte gedacht, dass Neuseeland mit 15.000 Tonnen jährlich, vor allem nach Deutschland
exportiertem Hirschfleisch der weltweit größte Produzent ist? Dabei waren – wie eingangs
berichtet – Hirsche, wie fast ausnahmslos alle Säugetiere, auf Neuseeland ursprünglich gar
nicht heimisch. Erst um 1860 wurden sie durch die jagdverrückten Engländer auf der Insel
eingeführt. Das Rotwild vermehrte sich dank der idealen Lebensbedingungen und mangelnder
Feinde explosionsartig, bis es zur Plage wurde.
Vor allem aus Sicht des Naturschutzes galten die Hirsche als eine destruktive Pest, weil Neuseelands
endemische Pflanzen 80 Millionen Jahre ohne grasende Säugetiere evolviert waren. Die Hirsche änderten
die ursprüngliche Zusammensetzung der Pflanzengesellschaften, indem sie besonders schmackhafte Pflanzen
bevorzugten und dort, wo sie in großer Zahl auftraten, verursachten sie einen Zusammenbruch der
Vegetationsbedeckung.2)
Alarmiert durch die immer größer werdenden Herden wurden in den 1950er Jahren von staatlichen Stellen
professionelle Jäger, sogenannte »Deer culler« (›Hirschkeuler‹) damit beauftragt, die Zahl der Hirsche
gravierend zu reduzieren und ihre Ausbreitung in neue Gebiete zu verlangsamen. Der Erfolg war in dem dünn
besiedelten, teilweise schwer zugänglichen Land zunächst bescheiden. Erst als in den 1960er Jahren die
Helikopterjagd eingeführt wurde und die Tiere massenhaft aus der Luft getötet wurden, gelang es akzeptable
Wilddichten zu erreichen. 3)
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Ein erlegter Hirschbock wird mit einem Helikopter zur Vermarktung abtransportiert.
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Von findigen Neuseeländern wurden die Hirsche schon früh als Einnahmequelle entdeckt. Zunächst
wurden das Fell und Fleisch der getöteten Hirsche auf dem Pferderücken und mit Geländefahrzeugen
und später auch mit Flugzeugen von improvisierten Landebahnen zur Vermarktung abtransportiert.
Mit dem Beginn der Jagd aus der Luft wurden die Hirsche dann mit dem Helikopter zu den wartenden
Lastwagen transportiert. Daraus entwickelte sich dann der Lebendfang, bei dem die Tiere mit
Gewehren betäubt wurden.
Die betäubten Hirsche wurden von sogenannten »Kerosene Cowboys« in Netzen, die unter dem Helikopter
angebracht waren, zu den Hirsch-Farmen befördert. Die Arbeit mit den mehr oder weniger betäubten
Hirschen war sehr gefährlich und es kam zu vielen Un- und Todesfällen4). Die ersten Farmen entstanden
Anfang der 1970er Jahre. Bis 2005 stieg die Zahl der Farmhirsche auf knapp 1.800.000 an. Die Hirsche
leben in riesigen eingezäunten Weidearealen auf fast 4.000 Farmen. 5)
Die Neuseelandhirsch-Lobby schwärmt in ihren Presseinformationen von »Glücklichen Hirschen auf
saftigen Weiden. Unsere Philosophie ist ganz einfach: wir erlauben den Tieren in einer natürlichen
offenen Weidelandschaft aufzuwachsen. Gut genährte Tiere sind gesund und glücklich. Sie wachsen
schnell, aber völlig stressfrei. So erhalten wir ein zartes, hochwertiges Qualitätsfleisch. Die Tiere
ernähren sich ausschließlich von Weidegras und Kräutern, nur in kälteren Monaten wird natürliches
Futter wie Heu oder Grassilage zugegeben.«
Ganz so natürlich und idyllisch wachsen die Hirsche dann doch nicht auf, denn es gibt ein
hochentwickeltes »Feed Management«, z. B. werden die Hirsche jährlich enthornt.6) Wodurch
sich vermutlich erklärt, weshalb auf dem beschaulichen Bild mit den grasenden Hirschen kein Geweihträger
zu sehen ist. Und völlig stressfrei kann es auch nicht zugehen, wenn die Tiere zusammengetrieben,
in LKW’s gepfercht und zu den Schlachthäusern transportiert werden. Doch darüber ist in den Publikationen
der Farmlobby wenig zu finden.
Insgesamt betrachtet ist die neuseeländische »Deer Industry« (Hirschindustrie) natürlich allemal
artgerechter als unsere elendige, von der EU subventionierte Massentierhaltung. Und auch in manchem
deutschen Jagdrevier wird, um hohe Wilddichten zu erzielen, unter dem Deckmantel der Winter- oder
Ablenkfütterung erheblich mehr gemästet als in neuseeländischen Farmwildbetrieben. Ja man kann sogar
sagen, dass ein neuseeländischer Farmhirsch oft naturnäher lebt, als so mancher deutscher Revierhirsch.
Anmerkung
1) Der Mythos von der außergewöhnlichen Einzigartigkeit der neuseeländischen Urnatur hat vor
wenigen Jahren einen Kratzer bekommen. Hartnäckige Paläontologen haben auf der Südinsel in jahrelanger
Feinarbeit eine 10 cm schmale Schicht aus Seeablagerungen durchkämmt. 2003 haben sie winzige Überreste
von Säugetierknochen gefunden, die auf eine sehr ursprüngliche, von neuseeländischen Zeitungen
kurzerhand »Watschelmaus« bezeichnete Säugetierart hindeuten. Es handelt sich vermutlich um
einen kleinen urtümlichen Insektenfresser, der noch vor 16 bis 19 Millionen Jahren die Insel besiedelte.
2)Man könnte einwänden, dass in Neuseeland, das vor dem Eintreffen der polynesischen
Einwanderer gegen Ende des 13. Jahrhundert weitgehend bewaldet war, auch die Grasländer nicht
natürlich waren.
3)Für einen mitteleuropäischen Naturschützer ist es gewöhnungsbedürftig oder gar
befremdlich, dass Naturschutz in Neuseeland in erster Linie töten heißt, um unerwünschte biologische
Invasoren auszurotten. Z. B. werden, um den sich epidemisch ausbreitenden pelzigen australischen Fuchskusus
zurückzudrängen, alljährlich tausende Tonnen von Giftködern aus Hubschraubern abgeworfen.
4) Der sogenannte »Deer War«, der von Ende der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre dauerte,
war für die jungen Männer, die sich für den Beruf des Helikopter-Jägers entschieden hatten, eine
abenteuerlich-gefahrvolle Zeit, in der man schnell viel Geld verdienen aber auch schnell sterben konnte.
Die gefährliche Arbeit der »Kerosene Cowboys« hat auch in heldenhaften Actionfilmen und Fernsehserien
ihren Niederschlag gefunden.
5) Aufgrund sinkender Fleischpreise ist die Zahl der Farmhirsche auf aktuell 1.200.000 Tiere und
die Zahl der Farmen auf 2.500 zurückgegangen.
6) Produkte aus frischen Bastgeweihen, denen in China, Korea und den USA eine aphrodisierende Wirkung zugeschrieben
werden, bilden eine zusätzliche Einnahmequelle. Den Tieren werden zwar vor dem Absägen des schmerzempfindlichen
Bastgeweihes Narkosemittel verabreicht, aus Sicht des Tierschutzes ist dies jedoch eine inakzeptable Praxis.
Literatur
Department of Conservation (2006): D E E R – Animal pests. – Christchurch
Karberg, Sascha (2008): Die Evolution hat immer noch einen Plan B. – In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 12 vom 23.03.2008
O’Connor, Mark (2010): Industry shape changing but income buoyant. – In: Deer Industry News, Ausgabe 45, Dez. 2010/Jan. 2011
G.M., 01.05.2011