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John Gerrard Keulemans in Buller (1872)
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Der Huia (Heteralocha actutirostris) war eine endemische, nur auf der Nordinsel Neuseelands vorkommende
Art von (Kehl-)Lappenvögeln. Der etwa rabengroße Vogel gilt offiziell seit 1907 als ausgestorben. Es gibt
aber Hinweise auf erheblich später datierte Sichtungen und darauf, dass der Huia vor der Ankunft europäischer
Kolonisten auch auf der Südinsel vorkam. Der Huia ist weniger durch sein Aussterben als durch einen
bemerkenswerten sexuellen Dimorphismus bekannt geworden, der in einer stark abweichenden Schnabelform
besteht. Das Männchen hatte einen kurzen, kräftigen knapp 6 cm langen Schnabel, der dem eines Spechts
ähnlich war. Das Weibchen dagegen einen gebogenen, fast doppelt so langen Schnabel. Da sich die
Geschlechter auch noch in der Größe unterschieden, wurden Männchen und Weibchen des Huias von
einem europäischen Ornithologen
zunächst als verschiedene Arten beschrieben.
Für das Aussterben des Vogels gibt es eine Vielzahl von Gründen. Zunächst wurde der Huia schon
von den Maori bejagt, weil seine Schwanzfedern und sein Balg ein wichtiges Statussymbol für Häuptlinge
waren. Die Jagd war allerdings reglementiert, d. h. auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt. Wirklich
bedroht wurde der Vogel erst als europäische Siedler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach
Neuseeland kamen. Um landwirtschaftliche Flächen zu gewinnen, holzten sie die Tieflandwälder ab,
die im Winter den bevorzugten Lebensraum der Huias bildeten. Mit ihren Schiffen brachten sie Ratten,
Katzen und gebietsfremde Vögel ins Land, die eine starke Bedrohung und Konkurrenz für die Huias darstellten.
Da die Huias nur mäßig begabte Flieger waren, waren sie eine leichte Beute für eingeschleppte Raubsäuger.
Hinzu kam, dass die Huias in Sekundärwäldern oder Forsten nicht überleben konnten, weil sie für ihre
Ernährung alte oder absterbende Bäume benötigten, in deren morschen Holz sie nach fetten Käferlarven
suchten, insbesondere die bis 7 cm großen Larven des Huhu-Käfers (Prionoplus reticularis), des größten
endemischen Käfers in Neuseeland. Ein zusätzlicher Jagddruck entstand, als die Schmuckfedern des Huias
auch in Europa zu einem begehrten modischen Accessoire wurden und nicht zuletzt durch die Ornithologen
selber, denn Feldforschung wurde damals vor allem mit der Büchse betrieben1). Ein österreichischer
Naturforscher brachte allein über 400 Huia-Bälge als Belegexemplare in das naturgeschichtliche Museum
nach Wien. Von Maori-Häuptlingen initiierte Schutzbemühungen scheiterten ebenso wie Versuche von Europäern,
Huias auf Inselreservate zu transferieren2).
Der Huia ist zwar nicht der einzige Vogel mit einer abweichenden Schnabelform, (weitere Dimorphismen gibt
es bei Kolibris, Baumhopfen, Spechten und Watvögeln) aber ein so extremer Unterschied wie bei ihm ist von
keiner anderen Vogelart bekannt, zumal er ganz unterschiedliche Ernährungsstrategien bedingt. So nutzte
das Männchen seinen meißelartigen Schnabel dazu, um ähnlich wie ein Specht im morschen Holz nach Käfern
oder Käferlarven zu suchen, während das Weibchen mit seinem langen Schnabel auch in tiefe Larvenfraßgänge
von gesundem Holz eindringen konnte. Anatomische Studien haben sogar gezeigt, dass das Männchen eine starke
Nackenmuskulatur besaß, die es in der Lage versetzte, Hohlräume durch Aufspreizung des Schnabels aufzuweiten.
Das Zustandekommen des extremen Geschlechtsdimorphismus beim Huia wird sehr kontrovers diskutiert.
Aus darwinistischer Sicht geht man davon aus, dass monogame Spezies, bei denen die Paare sich ein
Territorium teilen, durch Nutzung unterschiedlicher Nahrungsressourcen, Konkurrenz vermeiden und
so ihre Fitness verbessern können. Damit versucht man auch zu erklären, dass Vögel, die Inseln
mit ihren eher knappen Nahrungsressourcen bewohnen, eine größere Tendenz zu Schnabeldimorphismen
zeigen, als ihre auf Kontinenten lebenden Verwandten. Allerdings fragt sich, warum dann nicht alle
monogam lebenden Vögel auf Inseln ausgeprägte Abweichungen der Schnabelform zeigen. Nicht alle Forscher
unterstützen daher die Hypothese, dass die extrem unterschiedliche Schnabelform beim Huia entstanden ist,
um den intraspezifischen Wettbewerb zwischen den Geschlechtern zu vermindern. Hinzu kommt, dass die
neuseeländischen Hauptinseln, wegen ihrer Größe gar keinen typischen Inselcharakter haben.
Eine andere, wenig überzeugende Idee ist, dass der elfenbeinfarbene Schnabel, der stark mit dem schwarzen
Gefieder kontrastiert, entstanden ist, um einen Partner anzulocken. Bei Tieren, die dimorphe Merkmale zur
Partnerwerbung nutzen, weicht die dimorphe Eigenart häufig stark vom Rest des Körpers ab. Darüber hinaus
wurde vermutet, dass die Weibchen abweichend vom Männchen so einen langen Schnabel haben, weil sie damit
besser an proteinreiche Larven gelangen können, die sie für die Ernährung ihrer Jungen benötigen. Eine
weitere Spekulation – die heute eher zur ökologischen Folklore zählt – besteht darin, dass die unterschiedlich
geformten Schnäbel den Geschlechtern eine Kooperation bei der Nahrungssuche ermöglichten. Das Männchen
beseitigt auf der Suche nach Larven mit seinem meißelartigen Schnabel das morsche Holz und öffnet so
die Larveneingänge im harten Holz für die Weibchen mit ihrem langen dünnen Schnabel.
Diese Hypothese geht auf den neuseeländischen Ornithologen Walter L. Buller (1836 – 1908) zurück und wurde
schon zwei Jahre nachdem er sie erstmals in seinem klassischem Werk »A History of the Birds of New Zealand«
publiziert hatte3). Buller war 1864 in den Besitz eines von Ureinwohnern gefangenen Huia-Pärchen
gekommen. Er konnte diese Vögel über ein Jahr beobachten, weil er für seine Absicht, sie an die Zoologische
Gesellschaft von London weiterzuleiten, eine günstigere Gelegenheit abwarten musste, denn Schiffspassagen
waren rar. Erstaunlicherweise waren sie leicht zu zähmen, schienen die Freiheit nicht zu vermissen und
machten nicht den geringsten Versuch zu entwischen. In ihre Behausung hatte Buller einen kleinen verzweigten
Baum gestellt, auf dem sie selten still saßen, sondern anmutig von Zweig zu Zweig hüpften. Und genau wie in
der freien Natur liebkosten sie sich immer wieder mit ihren Schnäbeln und versicherten sich ihrer Anwesenheit
durch leises Zwitschern4). Am meisten interessierte Buller die Frage, ob sie bei der Nahrungssuche kooperierten
und dies den ökologischen Sinn der so unterschiedlichen Schnäbel erklären könnte.
Um zu klären, ob sie sich gegenseitig bei Nahrungssuche unterstützten, stellte er einen alten Baumstamm
in ihre Behausung, der mit Huhu-Käferlarven, der Lieblingsnahrung der Huias, befallen war. Buller beobachtete,
dass das Huia-Paar den Stamm bearbeitete, in dem es zunächst sorgfältig die weicheren äußeren Schichten des
Holzes mit ihren Schnäbeln beseitigte, um dann energischer vorzugehen, bis eine Larve oder Puppe aufgespürt
wurde. Diese wurde dann aus ihrem Versteck gezogen und verzehrt. Die unterschiedliche Form der Schnäbel
nutzten die Vögel für unterschiedliche Vorgehensweisen. Das Männchen attackierte die eher morschen Teile des
Stammes, wobei es die Larven ähnlich wie ein Specht herausmeißelte. Das Weibchen sondierte mit seinem langen
Schnabel die vom Männchen freigelegten härteren Teile nach Larvengängen. Einige Male beobachtete Buller sogar,
dass das Weibchen dem Männchen zur Hilfe kam, wenn es mit seinem kurzen Schnabel, nicht in der Lage war, eine
Larve zu erwischen. Den so beschafften Bissen fraß das Weibchen allerdings immer selber, ohne das Männchen an
der Mahlzeit zu beteiligen.
Aus Bullers Bericht lässt sich keine Kooperation der Geschlechter im Sinne einer gegenseitigen Hilfe bei der
Nahrungssuche ableiten, denn das Verhalten der Vögel ergibt auch Sinn, wenn sich beide Geschlechter egoistisch
verhalten. Das Männchen kann z. B. nicht vermeiden, dass es auf der Suche nach Larven im morschen Holz Larvengänge
im härteren Holz freilegt. Die werden dann zwar vom Weibchen mit seinem langen schmalen Schnabel genutzt, um Beute
zu machen, aber das ist noch kein kooperatives Verhalten im strengen Sinne. Davon könnte man erst sprechen, wenn
das Weibchen das Männchen für das mühsame Freilegen der Gänge belohnen würde, indem es seine Beute mit ihm teilt.
Auch vor evolutionärem Hintergrund ergibt die egoistische Interpretation des Verhaltens der Huias Sinn. Es schadet
dem Männchen nämlich nicht, wenn seine Partnerin von seinen Investitionen bei der Nahrungssuche profitiert. Nur ein
gut genährtes und zufriedenes Weibchen sorgt für guten Nachwuchs und damit auch für eine Weitergabe der männlichen
Gene in die nächste Generation.
Die Idee einer innigen Kooperation der Huias bei der Nahrungssuche ist so attraktiv, weil sie eine anrührende
Geschichte von einer Paarbeziehung wäre, in der sich die Partner im Laufe der Evolution morphologisch so spezifiziert
haben, dass sie bei der Nahrungssuche geradezu symbiotisch aufeinander angewiesen sind. Genau diese Vorstellung
spiegelt sich in der volkstümlichen Bezeichnung »Tandemspecht« für den Huia wider. Ohne Frage verdanken
solche »Geschichten voller Gefühle, Schönheit, Anmut, Würde, Liebe und mit einem gut organisierten Familienkalender...«5)
ihre Popularität auch der Sehnsucht unserer Spezies nach gelungenen Paarbeziehungen, in denen ja heutzutage
das Scheitern vielmehr als das Gelingen zur Norm geworden ist. Und so hat wohl fast jeder von uns schon einmal den
Wunsch gespürt, in einer Beziehung zu leben, in der es so harmonisch wie bei Familie ›Tandemspecht‹ zugeht.
Allerdings ein Wunsch mit Verfallsdatum, denn nach spätestens sechs Wochen Tandembeziehung (bei Männern vermutlich noch früher)
würde wohl ein ebenso intensiver Wunsch nach einem Mindestmaß an Autonomie massive Konflikte heraufbeschwören. Mir fällt zu der Geschichte von
den Tandemspechten eine Sendung von Wieland Backes Nachtcafé (SWF) ein, wo zum wiederholten (aber immer wieder unterhaltsamen)
Male diskutiert wurde, ob gelungene Partnerschaften zwischen so unterschiedlichen Wesen wie Mann und Frau möglich sind.
Gegen Ende der beschaulich-intellektuellen Runde erhob ein bis dahin eher schweigsamer Gast das Wort und
bemerkte: »Schon seine Großmutter hätte gesagt, Männer und Frauen passen nicht zusammen, außer in der Mitte!« Er hatte die
Lacher des partnerschaftlich erfahrenen, um nicht zu sagen, vorbelasteten Publikums auf seiner Seite.
Anmerkungen
1) Auch die Maoris waren nicht untätig. Eine Gruppe von 11 Maoris tötete innerhalb von einem Monat
knapp 650 Huias. Die Jagd wurde dadurch erleichtert, dass der Huia dem Menschen gegenüber sehr zutraulich war
und sich leicht durch nachgeahmte Rufe anlocken ließ: »While thus engaged, we heard the soft flute-note of the
Huia in the wooded gully far beneath us. One of our native companions at once imitated the call, and in a few
seconds a pair of beautiful Huias, male and female, appeared in the branches near us. They remained gazing
at us only a few instants, and then started off up the side of the hill, moving by a succession of hops,
often along the ground, the male generally leading. Waiting till he could get both birds in a line, my
friend at length pulled trigger; but the cap snapped, and the Huias instantly disappeared down the
wooded gully.« (Buller 1888)
2) Diese Schutzversuche der kolonialen Naturschützer scheiterten auch deshalb, weil die
Leute, die damit beauftragt waren, Huias lebend zu fangen, um sie in Inselreservaten wieder freizulassen,
es erheblich profitabler fanden, sie als tote Exemplare an reiche Europäer zu verkaufen, als sie den
Naturschützern zu übergeben.
3) Die Idee, dass sich Huia-Paare gegenseitig bei Nahrungssuche helfen, wurde schon von
Charles Darwin in seinem unterschätzten Werk »Die Abstammung des Menschen« (1874) mit Bezug auf
Buller (1872) aufgegriffen. Die Ursache für den merkwürdig großen Unterschied der Schnäbel sah er
allerdings in der Fortpflanzung begründet. Das Weibchen benötige zum Zwecke der reichlichen Nahrungsbeschaffung
für die Jungen einen spezieller geformten Schnabel als das Männchen.
4) Die außergewöhnlich tiefe Verbundenheit dieses Huia-Paares zeigte sich auch darin, dass
das Weibchen, nachdem das Männchen versehentlich zu Tode gekommen war, in Apathie verfiel und 10 Tage später starb.
5) Diese Formulierung entstammt der genialen WDR-Familienserie »Die von der Leyens«.
Darin wird die Frage auf die Schippe genommen, wie eine promovierte Medizinerin, erfolgreiche Ministerin,
korrekt gekleidete Führungspersönlichkeit, die zudem noch 7 Kinder hat und seit 24 Jahren mit dem
gleichen Vorzeigeehemann verheiratet ist (und dadurch ein gewisses gesellschaftliches Reizbild schuf), es
eigentlich zu Hause macht. Eigenwerbung WDR: »Die perfekte Familie mit der perfektesten aller Muttis:
Ursula. Geschichten mit viel Gefühl, noch mehr Arbeit, einem großen Familienkalender und einem kleinen
Zeitfenster. Erleben Sie eine der schönsten Familienserien im deutschen Hörfunk: Hier sind die von der Leyens.«
Quellen
Buller, Walter Lawry (1888, erste Ausgabe 1872): A History of the Birds of New Zealand. – London
Darwin, Charles (1874, erste Ausgabe 1871): The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. – London
Naish, Darren (2008) Sexual dimorphismen in bird bills: commoner than we'd thougt
Wikipedia (englisch u. deutsch)
SWF u. WDR
G.M., 01.09.2010