»Flattened Fauna« – Ein vernachlässigtes, noch weithin apokryphes Forschungsgebiet
Ende der 1970er Jahre kannte ich einen Künstler, der mit seiner Familie etwas abgelegen vom Dorf auf einem
kleinen ehemaligen Bauernhof lebte. Wenn ich mich recht erinnere, war das alternative Aussteigeridyll aber
nicht so autark, wie es auf den ersten Blick schien, denn es funktionierte nur, weil seine Frau als
Kunstlehrerin im öffentlichen Dienst arbeitete, also vom Staat alimentiert wurde. Auf dem Hof standen einige
Skulpturen, die aus ausrangierten Gebrauchsgegenständen zusammenmontiert waren. Das war damals hipp, weil
es die bürgerliche Konsum- und Wegwerfgesellschaft auf provozierende Art bloßstellen sollte. Noch provozierender
ging es unter dem Dach einer nach vorne offenen Scheune zu. Dort war eine Leine gespannt, an der überfahrene
Tiere hingen, die der Künstler auf der Straße gefunden hatte. Schemenhaft erinnere ich mich noch an einige
Amseln und Kröten, die mit einer Schlinge am Bein befestigt, kopfüber von der Leine baumelten.
Nun überliefert sich ja bekanntlich im Volksmund von heute oft die Wissenschaft von gestern, während die
Wissenschaft von heute oft die avantgardistische Kunst von gestern ist. Deshalb war ich nicht völlig irritiert,
als ich vor einigen Jahren auf ein Bestimmungsbuch für überfahrene Tiere aufmerksam wurde. Da ich gerade eine
Geschichte über den sagenhaften Feuersalamander
geschrieben habe, den der durchschnittliche Naturfreund eher
überfahren als lebendig zu Gesicht bekommt, hatte ich mich daran erinnert und mir das Buch besorgt. Nach
eigener Darstellung ist es der definitive Führer für Millionen von Leuten, die selten ein Wildtier sehen,
das nicht von Dutzenden von Fahrzeugen überfahren wurde und von Sattelschleppern zu einem verschwommenen,
mit Fell, Schuppen oder Federn bedeckten Pastetchen zusammengepresst wurde, das von der Sonne ausgedörrt,
schlussendlich nicht einmal für Fliegen mehr von Interesse ist.
Der Autor des Büchleins, der pensionierte Biologieprofessor Roger M. Knutson schließt mit seinem kleinen
Werk eine wichtige Lücke in der wissenschaftlichen Literatur über die Beschreibung der Natur. Er identifiziert
nicht nur die 36 häufigsten auf nordamerikanischen Straßen oder an Straßenrändern aufzufindenden Überbleibsel
von Tieren, sondern er analysiert auch die durch die rasante Evolution von Transportfahrzeugen verursachten
Veränderungen in der faszinierenden Welt der Vögel, Säugetiere, Reptilien und Amphibien. Aufgrund des wachsenden
Interesses aus Übersee, beinhaltet die mir vorliegende neu überarbeitete Ausgabe auch neue aufregende Daten über
Trends in der internationalen Nekrologieforschung über faunistische Straßenopfer. Und zwar aus allen Kontinenten
dieses Planeten außer der Antarktis, wie der Autor betont. Überall auf der Erde gelte das Gesetz, dass das Vorkommen
an überfahrenen Tieren nicht nur von der vorhandenen Artenvielfalt, sondern auch von der Dichte des Verkehrsnetzes
und seiner Auslastung abhängt. Allerdings kann ein McDonald's, zu lokalen Verzerrungen führen, da nicht wenige Kunden
dazu neigen, die Hamburger-Kartons inklusive Speiseresten während der Fahrt bequem aus dem Autofenster zu entsorgen.
Das lockt viele Tiere auf die Straße, die dann unter die Räder gekommen, weitere aasfressende Tiere auf die Straße
locken, getreu nach dem ökologischen Diktum: »Everything is food for something!«
Um einen Überblick über den Inhalt des Büchleins zu geben, zitiere ich im Folgenden aus dem Inhaltsverzeichnis:
Die Straße als Habitat, Geschichte und Zukunft -, die saisonale Natur - sowie Mimikry und Schutzfärbung der
Straßenfauna, internationale Studien über die Straßenfauna, private und öffentliche Sammlungen von Exemplaren
überfahrener Tiere sowie die für den Autofahrer gefährlichsten Tiere der Straßenfauna (wie z. B. Elche). Auf
keinen Fall unerwähnt bleiben, darf der Dreh- und Angelpunkt des Buches. Das ist der dichotome Bestimmungsschlüssel
für die Hauptgruppen der überfahrenen Straßenfauna. Er ist ein Standardinstrument, das wohl allen Naturfreunden
bekannt ist. Hier ist er wie folgt aufgebaut: Federn vorhanden, häufig farbenfroh und im Fahrtwind von Autos
flatternd oder Federn abwesend, selten bunt gefärbt und meistens nichts, was im Wind flattert. Der aufmerksame
Leser erkennt sofort, dass hier die Vögel
von den Reptilien, Amphibien und Säugetieren
abgetrennt werden. Im nächsten Schritt werden dann über die Fellbedeckung, die manchmal nur an der Umrandung erkennbar ist, die
Säugetiere selektiert. Die Schlangen
erkennt man daran, dass sie mehr als 12 Mal länger als breit sind und
keine Beine oder andere Gliedmaßen haben und die Fledermäuse daran, dass sie zwar Flügel aber keine Federn haben.
Wer diesen Schlüssel einmal gelesen hat, vergisst ihn nie wieder, zumal er einem beim Anblick eines überfahrenen
Tieres sofort in den Sinn schießt.
Kurzum dieses Büchlein ist ein durchaus ernsthaftes, mit vielen interessanten Informationen vollgestopftes
Bestimmungsbuch über Tiere, die von ihrem ursprünglich dreidimensionalen in den zweidimensionalen Zustand
verwandelt wurden und zugleich ein mit schwärzestem Humor durchtränkte Parodie auf die Bestimmungsbuchliteratur.
Die zynische Art und Weise, mit der der Autor das bisher vernachlässigte Forschungsgebiet »plattgefahrene Fauna«
anspricht, gefällt vielen aber nicht jedem Leser. Wer glaubt, dass die Natur aus süßen Bambis besteht oder das
Außengehege eines Streichelzoos ist, der sollte dieses Buch meiden und sich lieber einem putzigen Tierbildband
aus der Kinderbuchabteilung zulegen.
Zum Schluss noch eine kritische Anmerkung: Für das vorliegende Bestimmungsbuch ist aus praktischen Gründen eine kleines
Format gewählt worden. Bei nur knapp mehr als 90 Seiten Umfang kostet das dünne Büchlein 10,- Euro. Für diesen Preis
ist es etwas spärlich und lieblos bebildert. Der Autor hat sich die Zweidimensionalität seiner Zielobjekte zu nutze
gemacht, sie einfach von der Straße abgekratzt und auf einen Kopierer gelegt, statt sie in situ zu fotografieren. Die
schwarz-weißen Kopien erfüllen zwar ihren Zweck, entbehren aber einen gewissen Ästhetik. Der Autor rechtfertigt die schlichte
oder dürftige Illustration damit, dass viele plattgefahrene Tiere wenig konsistente Farbmuster und Umrissformen zeigen würden.
Damit hat er zwar nicht ganz unrecht, das bedeutet aber nicht, dass keine qualitativ ansprechenden Fotographien möglich sind.
Dies zeigt z. B. das Bild einer plattgefahrenen Kröte, die der Rezensent auf seiner letzten Radtour entdeckte und mit einer
simplen Smartphone-Kamera ablichtete:
|
|
Erdkröte
|
Amerikanische Kröte
|
G.M.,11.10.10