Die Evolutionsbiologie ist ein komplexes Wissenschaftsgebiet. Sie gewinnt ihre Erkenntnisse aus vielen Teilgebieten
der Bio- und Geowissenschaften von der Molekular- und Populationsgenetik über die Morphologie, Physiologie und
Embryologie bis hin zur Paläontologie und Biogeographie. Mit Bezug auf den von Neodarwinisten (und so auch in
Kutscheras Lehrbuch) viel zitierten Satz des frühen ›Synthetikers‹ Theodosius Dobzhansky: »Nichts
macht Sinn in der Biologie außer im Licht der Evolution« wird daraus gerne geschlossen, die Evolutionsbiologie
sei die ›Königsdisziplin‹ der Biologie. Tatsächlich wird hier wird behauptet, was es erst noch
zu beweisen gilt, denn bisher beschreibt die Evolutionsbiologie mehr als sie ›erhellt‹, d. h. es fehlt
ihr an überzeugenden Theorien, um all die empirischen Daten der biologischen Teilgebiete plausibel zu interpretieren.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Pflanzenphysiologe Ulrich Kutschera mit seinem Versuch, eine allgemeine Einführung
in die Evolutionsbiologie zu schreiben, sehr viel vorgenommen. Kutschera räumt zwar bereits im Vorwort ein,
dass »einige Sachgebiete im Rahmen seiner recht kurzen Abhandlung« nicht näher diskutiert werden
konnten, beansprucht aber paradoxerweise gleichzeitig, »eine möglichst repräsentative Auswahl eindrucksvoller
Höhepunkte der aktuellen Forschung zu referieren«. Was motiviert einen Autor, sich einen solchen Herausforderung
zu stellen und wie glaubt er, diese Aufgabe bewältigen zu können?
Ein Blick in das ziemlich ›magere‹ Literaturverzeichnis zeigt, dass Kutschera sich bei der Darstellung der
evolutionsbiologischen Erkenntnisse weniger auf die Ergebnisse der aktuellen Forschungsliteratur als auf die
gängige Übersichtsliteratur und seine persönlichen Steckenpferde verlassen hat. Sein erläuternd
gemeinter aber irritierend wirkender Hinweis, dass »aufgrund des unermeßlichen Umfangs der Fachliteratur
auf eine Auflistung von Zeitschriftenaufsätzen verzichtet werden musste«, lässt erste Zweifel an dem
wissenschaftlichen Anspruch seines Projektes aufkommen. Bereits in den einleitenden Sätzen des Vorwortes wird
deutlich, was den Autor motiviert, ein evolutionsbiologisches Lehrbuch zu schreiben. Kutschera zitiert dort die auf Sigmund
Freud zurückgehende Behauptung, die Menschheit habe im Laufe ihrer Geschichte von der Wissenschaft drei empfindliche
Kränkungen hinnehmen müssen: »Eine kosmologische durch das heliozentrische Weltsystem des Kopernikus,
eine biologische durch Darwins Abstammungslehre und eine psychologische durch die Freudsche Hypothese von der relativen
Ohnmacht des freien Willens gegenüber unstillbaren, aus dem archaischen Unbewussten aufsteigenden Triebwünschen«.
Diese elende Geschichte haben wir schon tausendmal gehört und sie wird deswegen kein bisschen wahrer. Sie zählt zu
den unausrottbaren Selbstidealisierungen und Selbststilisierungen einer allzu selbstgerechten und selbstgefälligen
Wissenschaftszunft.
Zweifelsfrei haben die Erkenntnis, dass der Mensch weder im Zentrum des Sonnensystems steht, noch eine biologische
Besonderheit ist, zu gewaltigen Veränderungen im Selbstbild des Menschen geführt. Aber weniger
als »empfindliche Kränkungen«, sondern eher als Aufwertungen. Vor Kopernikus war die Erde
zwar das Zentrum der Welt aber als sublunare Sphäre auch der minderwertigste Teil der Himmelsphären.
Als sumpfiger Bodensatz und schlechtester Teil des Universums beherbergte die Erde womöglich unter der
Erdoberfläche sogar die Hölle. Und vor Darwin konnte sich die Menschen den Himmel nur als von
Gott regiert und sich selbst als von Gott geschaffen denken. Seit Jahrhunderten hatte der Klerus verkündet,
dass der Mensch ein der göttlichen Vorbestimmung ausgeliefertes Wesen ist. Demgegenüber ermöglichte
die darwinsche Abstammungslehre den Menschen, sich aus den göttlichen Fesseln zu befreien und sich und die
Welt individueller zu interpretieren. Dabei war die Vorstellung, nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen zu sein,
sondern in die unmittelbare Verwandtschaft der Tiere in Stall und Zoo gerückt zu werden, vielleicht zunächst
ein wenig gewöhnungsbedürftig aber insgesamt wohl eher nebensächlich.
»Empfindlichst gekränkt« waren wohl vor allem der Klerus und der Adel. Und dies aus sehr
pragmatischen Gründen: Beide Stände beriefen sich zur Festigung ihrer Besitzstände und Macht
seit Altersher auf die göttliche Vorbestimmung und hatten durch eine Weltanschauung, die Menschen
ermutigte, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und gegen ihr Schicksal aufzubegehren, nichts zu gewinnen.
Die privilegierten Stände befürchteten, dass die alte Ordnung durch das neue darwinistische Weltbild
in Frage gestellt werden könnte. Diese Angst vor einem neuen Weltbild hat sich besonders trefflich in dem
bekannten Ausruf der Frau des Bischofs von Worcester überliefert: »Du meine Güte! Wir sollen
vom Affen abstammen? Wir wollen hoffen, daß das nicht stimmt. Aber wenn es wahr ist, dann wollen wir
beten, daß es nicht bekannt wird!« Leider wird diese amüsante Anekdote in der evolutionsbiologischen
Literatur häufig so zitiert, als spiegele sie ein gesamtgesellschaftliches Stimmungsbild wider. Tatsächlich
dokumentiert sie die Befürchtungen der privilegierten Stände vor der Verbreitung neuer Selbst- und
Weltinterpretationen und ihr pragmatisches Interesse an einer biblisch geprägten Weltanschauung.
Bei der Lektüre des Vorwortes mag der Leser noch verwundert sein, dass in Kutscheras Lehrbuch solche Fragen
weder gestellt noch diskutiert werden. Später wird er feststellen müssen, dass die trivialisierende
Verkürzung von komplexen Sachverhalten ein durchgängiges Charakteristikum des gesamten Lehrbuches ist.
Kutschera interessiert an den von Sigmund Freud angeführten Umbrüchen nur, dass mindestens zwei von
ihnen zwischenzeitlich den »Status einer erwiesenen Tatsache« erreicht haben, nämlich das
heliozentrische Weltbild des Kopernikus und Darwins Abstammungslehre. Er begrüßt, dass am heliozentrischen
Weltbild im Zeitalter der Raumfahrt und dank so großartiger Naturforscher wie Johannes Kepler, Galileo Galilei
oder Isaac Newton niemand mehr zweifeln würde. Um so mehr empört es ihn, dass bis heute massive Zweifel
am evolutionistischen Weltbild geäußert werden: In der aktuellen Tagespresse würde es schon mal
als »Denkmodell aus dem Dampfmaschinenzeitalter« verunglimpft und viele Menschenwürden sich
immer noch weigern, die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen als »erwiesene Tatsache« anzuerkennen.
Für Kutschera liegen die Ursachen für den respektlosen Umgang mit der darwinistischen Wahrheit auf
der Hand: Zum einen fühlten sich auch »viele Nichtbiologen (...) dazu berufen, über die
Evolutionstheorie zu urteilen, während zu anderen großen Problemen der Biologie (...) der Laie
mangels Sachkompetenz schweigt«. Zum anderen gäbe es zwischenzeitlich auch in Deutschland eine
kleine Gruppe von »christlich-konservativ ausgerichteten Evolutionsgegnern«, die sich »fast
unbemerkt von der Öffentlichkeit« etabliert habe und nichts unversucht lässt, mit ihren
evolutionskritischen Schriften, die Akzeptierung des Darwinismus als naturgesetzliche Tatsache zu torpedieren.
Beiden Ursachen will Kutschera mit seinem Kurzlehrbuch den Garaus machen, in dem er den Lesern
in »prägnanter, anschaulicher Form« das zum Verständnis der Evolutionstheorie
erforderliche »umfassende chemisch-biologische Grundlagenwissen« vermitteln will. Für ihn hat
das Lehrbuch sein Ziel erreicht, wenn es Kritiker der Evolutionstheorie vom »Wahrheitsgehalt dieses
grandiosen Gedankengebäudes« überzeugen kann. Schon im Vorwort wird deutlich: Dies ist nicht
die Sprache eines kritischen Forschers, der sich an die schwierige Aufgabe wagt, den Stand der Wissenschaft
zu dokumentieren, sondern eines von der ›darwinistischen Wahrheit‹ überzeugten, bekennenden und bekehrenden
Missionars.
Und die ›frohe Botschaft‹, die Kutschera der Vorsitzende der AG Evolutionsbiologie im Verband
der deutschen Biologen und selbsternannte Hüter und Verbreiter der reinen evolutionsbiologischen Lehre
in seinem Kurzlehrbuch ›an alle‹, d. h. an Biologen und gebildete Nichtbiologen richtet, lautet:
Darwins Abstammungslehre und insbesondere ihre jüngste Neuformulierung in der sogenannten »erweiterten
synthetischen Evolutionstheorie« ist durch wissenschaftliche Erkenntnisse so abgesichert, dass zum
evolutionistischen Weltbild keine Alternativen mehr möglich sind. Menschen, die dies bezweifeln sind
entweder so inkompetent, dass sie den »Wahrheitsgehalt dieses grandiosen Gedankengebäudes« nicht
begreifen können oder wie die Kreationisten durch ihren Glauben an die biblische Offenbarung irregeleitet.
Kurz: Darwins Abstammungslehre ist heute eine naturgesetzliche Tatsache und so wahr, wie es früher nur
Gott war. Was Kutschera uns hier anträgt, charakterisiert ihn als ausgesprochen schlechten Wissenschaftler.
Einen guten Wissenschaftler zeichnet bekanntlich aus, dass sein Hauptinteresse nicht darin besteht, recht zu
behalten, sondern Unerwartetes zu entdecken und damit die Falsifizierung seiner bevorzugten und für
besonders abgesichert gehaltenen Theorien zu riskieren.
Kutschera formuliert sein evolutionsbiologisches Credo derart doktrinär und einfältig, dass mich
sein Lehrbuch spontan an den unsäglichen katholischen Katechismus meiner frühen Schulzeit in den
1960er Jahren erinnert hat. Die Parallelen betreffen nicht nur die apodiktisch verkündigte Botschaft,
sondern auch die simplifizierende Verkürzung und den spröden Stil von Text und Abbildungen. Manchmal
war ich regelrecht verwundert, dass keine führende, mahnende oder belehrende Hand von oben in die
Abbildungen hineinragte. Im Text nimmt diese ›Hand‹ durch den unangenehm häufigen, weil
vereinnahmenden Gebrauch des »wir« (wir wollen, wir wissen, wir werden usw.) Gestalt an. Kutschera
will damit wohl suggerieren, dass er über einen so tiefen Einblick in die komplexe evolutionsbiologische
Erkenntniswelt verfügt, dass der Leser ihm sorg- und gedankenlos vertrauen kann. Ich kann mir daher gut
vorstellen, dass mancher Leser weniger Darwins berühmtes Werk über die Entstehung der Arten als
Kutscheras katechetisches Kurzlehrbuch als intellektuelle ›Kränkung‹ empfinden wird.
Tatsächlich kann man Kutscheras Auflistung der verbindlich anzuerkennenden evolutionsbiologischen
Glaubensinhalte als Versuch betrachten, den Menschen wieder die persönliche Freiheit zu nehmen, die
ihnen einst Darwins Abstammungslehre verschafft hat.
Das von Kutschera verkündete evolutionsbiologische Credo ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig:
Erstens kann und soll uns die Wissenschaft nicht vorschreiben, mit welcher Weltanschauung wir glücklich
werden. Begriffe wie »wahr« oder »falsch« haben da nichts zu suchen. Wenn Kutschera
glaubt, dass die in der Tradition der darwinschen Abstammungslehre stehende »erweiterte synthetische
Evolutionstheorie« für sein Seelenheil und seine Selbstinterpretation bekömmlich ist, dann
soll dies so sein. Wenn andere aber die in der Tradition der biblischen Schöpfungslehre stehende
kreationistische Grundtypentheorie für die bessere und ihr Leben bekömmlichere Lösung halten,
dann soll dies auch so sein. Nur weil einige zentrale Annahmen der biblischen Schöpfungslehre sich einer
wissenschaftlichen Überprüfung stärker entziehen als die Annahmen der darwinschen Abstammungslehre,
folgt daraus noch lange nicht, dass die biblische Schöpfungslehre auch die schlechtere Weltanschauung ist.
Selbst ein ausgewiesener Naturwissenschaftler wird es vorziehen, mit einer weniger rationalen Weltanschauung
glücklich als mit einer rationaleren unglücklich zu werden.
Zweitens ist es und das ist die von Neodarwinisten am meisten verleugnete Bilanz moderner evolutionsbiologischer
Forschung um die zwingende Beweiskraft der »synthetischen Evolutionstheorie« trotz ihrer
vielen »Erweiterungen« ziemlich schlecht bestellt. Es gibt zwar eine Vielzahl von paläontologischen,
entwicklungsbiologischen, morphologischen oder molekulargenetischen Indizien, die auf eine gemeinsame Abstammung der
Lebewesen hinweisen. Diese Indizien sind aber, wie z. B. widersprüchliche morphologische Merkmalskombinationen
oder abweichende molekulargenetische Stammbäume häufig so vieldeutig, dass unterschiedlichste Abstammungsverläufe
denkbar sind und sogar eine Interpretation im Rahmen kreationistischer Grundtypen nicht völlig aus der Luft gegriffen
erscheint. Als orthodoxer Neodarwinist ist Kutschera gar nicht willens, solche Probleme angemessen wahrzunehmen und zu
diskutieren. Dies spiegelt sich in seiner naiv-erbaulichen Bewertung »klassischer Methoden der Beobachtung und
Beschreibung rezenter Organismen für Einblicke in Evolutionsvorgänge« wider: »Auch ohne Fossilreihen,
mikroskopische bzw. biochemische Studien und aufwendige Genomanalysen kann die Stammesgeschichte ausgewählter
Organismengruppen rekonstruiert und anhand von Modellen plausibel gemacht werden«.
Zu der bisher unzureichend interpretierten Vieldeutigkeit der phylogenetischen Indizien passt, dass die »erweiterte
synthetische Evolutionstheorie« bis heute keinen Mechanismus kennt, der die im paläontologischen Befund
dokumentierte rapide variierende Geschwindigkeit der Entwicklung der Baupläne von Lebewesen auch nur einigermaßen
plausibel erklären könnte. Es gibt keine überzeugende Theorie, die z. B. die Vervielfachung der Baupläne
zu Beginn des Kambriums, die Radiation der Säugetiere zu Beginn des Tertiär, die explosive Artbildung von
Buntbarschen gegen Ende des Quartär sowie die erstaunliche Stagnation der Baupläne der sogenannten lebenden
Fossilien erklären könnte? Was man findet sind bestenfalls umstrittene Hypothesen oder Spekulationen zur
Erklärung einzelner Teilphänomene. Doch damit nicht genug. Seit dem rasanten Zuwachs der Erkenntnisse über
die Komplexität der mikrobiologischen bzw. molekulargenetischen Organisation des Lebens wird immer deutlicher,
dass der neodarwinistische Mutations-/Selektionsmechanismus maximal dazu taugt, mikroevolutive Prozesse zu erklären,
wie wir sie etwa bei der Züchtung von Haustieren oder der Entwicklung von Rassen durch geographische Isolation
beobachten können. Für die Erklärung makroevolutiver Prozesse, also der Entwicklung neuer Baupläne
greift er demgegenüber viel zu kurz!
Wie gelingt es nun Kutschera, sich und dem Leser diesen Erklärungsnotstand zu verheimlichen? Zunächst
wiederholt er in alter darwinistischer Tradition die bis heute durch nichts belegte Behauptung, dass sowohl die
Mikro- als auch die Makroevolution auf den selben Mechanismus zurückführbar sind, d. h. dass Makroevolution
nichts anderes als Mikroevolution in der Zeit ist. Nachdem dies erst einmal ausgesprochen ist, hat er keine Skrupel
mehr, dem Leser all die jämmerlichen und längst entzauberten Beleg-Ikonen der darwinschen Evolutionslehre
von der adaptiven Radiation der Darwin-Finken über den Industrie-Melanismus bei Birkenspannern bis hin zur linearen
Entwicklung des Pferdefußes wieder aufzutischen. Dieser Unsinn gipfelt darin, dass er die Züchtung des
Kulturmais aus einer Wildform als »experimentellen Beleg« (!) für eine darwinistische
Makroevolution anführt: »Durch wiederholte Variation und Selektion kann relativ rasch ein neuer
Pflanzenbauplan entstehen. Die Makroevolution von Teosinte zum Kulturmais war somit ein Resultat weniger
Mikroevolutionsschritte. Ein zentrales Postulat der Synthetischen Theorie der Evolution konnte so durch experimentelle
Genomanalysen bestätigt werden«. Tatsächlich kann die Züchtung des Kulturmais, der zwar von seiner
wahrscheinlichen Wildform (Teosinte) morphologisch stark abweicht, aber mit seiner Wildform problemlos kreuzbar
ist, nicht einmal als Beispiel für die Entwicklung einer ›biologischen‹ Art herhalten.
Kutschera rundet die Anführung der neodarwinistischen Beleg-Ikonen dadurch ab, dass er wichtige Erkenntnisse
der modernen evolutionsbiologischen Forschung nur sehr verkürzt oder gar nicht darstellt. So erfährt der
Leser zwar, dass man aus dem Abgleich von DNA-Sequenz-Daten verschiedener Spezies Gen-Stammbäume erstellen kann.
Er erfährt allerdings nicht, dass diese Methode auf der Theorie der neutralen molekularen Evolution des Genetikers
Motoo Kimura basiert. Die neutrale Theorie besagt, dass die meisten Mutationen die Fitness eines Individuums nicht
beeinträchtigen also selektionsneutral sind. Kutschera erwähnt die neutrale Theorie nur kurz im Glossar u
nd begründet seinen Verzicht auf eine ausführlichere Darstellung damit, dass sie »kontrovers
diskutiert« wird. Kontrovers werden aber vor allem die von ihm angeführten, neodarwinistischen Beleg-Ikonen
diskutiert. Nach Auffassung vieler Forscher sind sie ziemlich nebensächliche Epi-Phänomene der Evolution.
Entscheidend für die Auslassung war daher wohl, dass sich die neutrale Theorie nur sehr schwer mit dem
Mutations- und Selektionskonzept der synthetischen Theorie vereinen lässt. Während für Neodarwinisten
das wichtigste Mittel der evolutiven Veränderung die Selektion ist, ist dies für Kimura die auf neutrale
Mutationen wirkende Zufallsdrift. Offensichtlich mag Kutschera seinen Lesern soviel Kontroverse nicht zu muten,
weil sie womöglich den ›grandiosen Wahrheitsgehalt‹ seines evolutionsbiologischen Credos
gefährden würde.
Doch damit nicht genug: Kutschera verschweigt dem Leser, dass auch ein zweiter Grundpfeiler der synthetischen
Theorie wackelt. Der besagt, dass alle Erbinformation vom Gen ausgeht, d. h. dass die Übertragung von
genetischer Information in Richtung Proteine eine Einbahnstraße ist. Das vererbliche »Rohmaterial für
die Evolution« kann nach dieser auf den Zoologen August Weismann zurückgehenden Auffassung nur von
spontanen, rein zufälligen Mutationen bereitgestellt werden. Originalton Kutschera: »Eine Vererbung
erworbener Eigenschaften (...) wurde bisher nie nachgewiesen«. Diese Behauptung ist ein Beleg für
seine neodarwinistisch verkürzte, selektive Wahrnehmung der einschlägigen Forschungsliteratur.
Tatsächlich gibt es schon seit Ende der 1980er Jahre experimentelle Anhaltspunkte dafür, dass
einzellige Organismen wie Bakterien oder Hefen ihre DNA in einer gerichteten, adaptiven Weise verändern
können. So verlassen sich mit Antibiotika behandelte Bakterien zur Erzielung von Resistenzen nicht
auf zufällige Mutationen, sondern spielen bei der mutativen Veränderung ihres Genoms eine aktive
Rolle, in dem sie DNA-schädigende Proteine synthetisieren. Solche »adaptiven Mutationen«
sind in der Mikrobiologie mittlerweile als existierendes Phänomen anerkannt. Auch bei höheren
Lebewesen mehren sich die Hinweise dafür, dass es in der Zelle eine Schnittstelle gibt, an der sich
Erbgut und Umwelteinflüsse wechselseitig verzahnen. Unter starken Verdacht stehen die Histone, die
man bisher für einen simplen Verpackungsstoff der DNA hielt.
Die vielleicht schwerwiegendste Auslassung des Lehrbuches besteht darin, dass Kutschera den Lesern
nicht über die schon in den 1980er Jahren entdeckten homeotischen Gene berichtet. Homeotische
Gene sind ›Masterkontrollgene‹, die Identität und Reihenfolge der Körpersegmente
in einer heranwachsenden Eizelle spezifizieren. Durch homeotische Mutationen können ganze Körperteile
in einen anderen verwandelt werden. Bei fast allen Lebewesen, seien es nun Insekten oder Säugetieren
erfolgt die Festlegung des Bauplans durch ähnliche homeotische Gene. Ihre Entdeckung hat daher einen
universalen genetischen Kontrollmechanismus der Morphogenese ans Licht gebracht. Dieser Mechanismus ist
so konservativ, dass z. B. bei Insekten und Säugetieren die für die Entwicklung des Auges
zuständigen homeotischen Gene austauschbar identisch sind. Darüber hinaus scheinen Mutationen
in homeotischen Genen für charakteristische stammesgeschichtliche Merkmalsunterschiede, wie
z. B. die Anzahl der Halswirbel bei Reptilien und Säugern verantwortlich zu sein. Auch für die
unterschiedlichen evolutiven Strategien der Gestaltbildung etwa bei Fischen und Säugern werden
zwischenzeitlich partielle Genomduplikationen und anschließende Genverluste in homeotischen
Gen-Clustern verantwortlich gemacht. Damit verfügt die moderne Evolutionsbiologie erstmals über
ein zukunftsträchtiges Forschungsfeld, welches dazu beitragen könnte, die klaffende Lücke
zwischen der Molekulargenetik und der Gestaltbildung zu schließen.
In den von einigen Rezensenten als »löblicher« Höhepunkt des Lehrbuches gefeierten
Schlusskapiteln setzt sich Kutschera mit der kreationistischen Evolutionskritik auseinander. Spätestens
hier erreicht das Buch seinen intellektuellen Tiefststand. Kutschera bemängelt, dass die Kreationisten
mit ihrer »irrationalen Kritik« an der synthetischen Theorie der Evolution diesen »intellektuellen
Prachtbau der Naturwissenschaften« auf »unakzeptable Art und Weise mit Schmutz beworfen«
haben. Sich selbst an die Spitze der ›Säuberungsbewegung‹ setzend, kündigt er an, dass
er in seinem Lehrbuch »die Argumente der deutschen Kreationisten und Evolutionskritiker zitiert und durch
ausführliche Gegendarstellungen entkräftet«. In der Praxis sieht das dann so aus, dass er nur
einen einzigen Satz aus dem Vorwort des 600 Seiten umfassenden Mammutwerk »Artbegriff, Evolution und
Schöpfung« des renommierten Genetikers und Evolutionskritikers Wolf-Ekkehard Lönnig
zitiert. Dies hält er für ausreichend, um dieses voluminöse und den geistigen Nährwert
seines eigenen ›Lehrbuches‹ um ein Vielfaches übersteigende Werk als unwissenschaftlich zu
disqualifizieren. Man kann daher nur hoffen, dass Kutscheras Lehrbuch möglichst wenigen Biologen und
Nichtbiologen in die Hände fällt, weil sie zurecht geneigt sein könnten, die viel pfiffiger,
fundierter und fortschrittlicher argumentierenden Kreationisten für die eigentliche evolutionsbiologische
Forschungsfront zu halten.
In seinem Epilog »Naturwissenschaft und Glaube« liefert uns Kutschera zu allem Überfluss
dann auch noch eine ökologische Bibelkritik und so etwas wie eine universelle evolutionäre Ethik.
Anklagend bilanziert er, dass die christliche Glaubenslehre mit ihrer Auffassung von der biologischen Sonderrolle
des Menschen für die »seit 1950 zu beobachtende Massenvermehrung des Spezies Mensch« verantwortlich
ist. Die Bevölkerungsexplosion habe »drastische Folgen für das gesamte Leben auf der
Erde (Hunger, Artensterben etc.)«. Demgegenüber laute der aus der Evolutionsbiologie ableitbare moralische
Grundsatz, »alle Spezies sind gleichwertig«. Auch diesen Unsinn haben wir schon oft gehört, weniger
von Evolutionsbiologen als von Grün-Alternativen. Man kann es nicht oft genug wiederholen, zu Wertsetzungen und
Bewertungen ist nur der Mensch in der Lage. Das ›gutgemeinte‹ Streben nach einer universellen biozentrischen
Ethik, bei der alle Spezies die gleichen Rechte (und Pflichten), wie der Mensch haben, endet im Chaos oder um es biblisch
auszudrücken, in ›Tod und Verderbnis‹: Dann sitzt etwa der verwundete Baum, den Kutschera fahrlässig
mit seinem Auto angefahren hat, als Nebenkläger auf der Gerichtsbank und fordert zusätzlich zum Bußgeld,
eine Verurteilung Kutscheras zur Zwangsarbeit in einer Baumschule. Dann wird das letzte tiefgefrorene Pockenvirus, nach
dem es von der universalen evolutionsbiologischen Ethik erfahren hat, einen Asylantrag für den Aufenthalt in
Kutscheras Körper stellen und eine Verfassungsklage für die ungehinderte Verbreitung seiner Erbinformation einreichen.
Und der neue Alphalöwe, der gerade die Jungen seines Vorgängers umgebracht hat, wird wegen mehrfachen Mordes aus
triebgesteuerten Motiven und einer negativen Verhaltensprognose zu einer lebenslangen Sicherheitsverwahrung in der von Kutschera
neueingerichteten forensischen Abteilung eines Zoos verurteilt.
Lieber Herr Kutschera, viel Spaß in Ihrer schönen neuen evolutionsbiologisch ›erhellten‹ Welt wünscht
Ihnen Ihr Christopher Handmann!