Auf den Autor Alexis Dworsky dieses ›sensationellen Buches‹ bin ich vor etwa zweieinhalb Jahren bei
einer Internetrecherche aufmerksam geworden. Damals hatte ich mich noch mit dem Kassler
Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera herumgeschlagen, der pünktlich zum Darwinjahr 2009
sein schrulliges Werk »Tatsache Evolution – Was Darwin nicht wissen konnte« auf den Markt
geworfen hatte. Darin war mir eine Abbildung aufgefallen, in der ein Dinosaurier seinen
langen Schwanz über den Boden schleifte. Da die Gestalt von Dinosauriern und die Art wie
sie sich bewegten im Verlauf ihrer paläontologischen Rekonstruktionen drastischen
Veränderungen unterworfen war, wollte ich an der Abbildung zeigen, dass Kutschera dazu
neigt, Naturwissenschaft als eine kontextfreie ziemlich ahistorische Angelegenheit zu
vermitteln. Bei meiner Recherche stieß ich dann auf den Artikel »Die sich wandelnde Idee
des Dinosauriers«, ein ausgesprochen lesenwertes Exposé zu Dworskys geplanter Dissertation.
Darin ging es weniger um die Rekonstruktion der physischen Natur von Dinosauriern anhand von
fossilen Knochen, als darum, wie sich die Ideen von seiner physischen Natur in den letzten 200
Jahren entwickelt oder verändert haben.
Das Exposé erinnerte mich an den forsch-fröhlichen Beitrag
»Vom Dodo lernen – Öko-Mythen um einen Symbolvogel des Naturschutzes«,
den ich zusammen mit meinem Mentor Prof. Dr. Gerhard Hard, Universität Osnabrück, in einem Fachmagazin für Naturschutz
und Landschaftsplanung publiziert hatte. Darin hatten wir ein bisher ungeschriebenes
naturschutzideologisches Gesetz formuliert: »Die vom Naturschutz privilegierten
Geschöpfe werden – auch wenn sie zuvor Ausbunde von Hässlichkeit und Grundlage von
Schimpfwörtern (z. B. Frösche, Lurche, Molche) waren – immer schöner oder eben wie der
ehemals fette Dodo immer schlanker!« Aufgrund der ähnlichen Herangehensweise an das
Thema hatte ich mich bei Dworsky erkundigt, ob er unseren Dodo-Artikel aus 2001 kennt
und ob er mir Literatur zum Wandel von Dinosaurier(re)konstruktionen empfehlen kann.
Dworsky wies mich auf das Buch »The Last Dinosaur Book: The Life and Times of a
Cultural Icon« von W.J.T. Mitchell (1998) hin. Mitchell, der eine wichtige Quelle für
seine Arbeit sei, sähe darin den Dinosaurier als reines Symbol und habe damit unter
Paläontologen eine ähnliche Lawine losgetreten, wie unser (ihm bereits bekannter)
Dodo-Aufsatz unter Naturschützern.
Der Künstler und Forscher Alexis Dworsky hatte mich neugierig gemacht. Seine damalige
Website enthielt
einen knappen aber humorigen Lebenslauf. Nach dem Geburtsdatum und -ort
folgte nicht etwa die Schulzeit, sondern der für einen um seine Existenz ringenden
Künstler obligatorische (hier allerdings ironisch gemeinte) Hinweis auf eine sehr
schwere Kindheit! Außerdem gefiel mir, dass seine Dissertation (die wie wir
zwischenzeitlich wissen eine die ganze Person in Anspruch nehmende, ernste
Angelegenheit ist) ihn nicht davon abhielt, witzige Kunst-Aktionen durchzuführen.
So schlich er spätabends heimlich in großen Dino-Schneeschuhen um Rodelhänge oder
Kindergärten herum und schaute sich am nächsten Morgen die Tumulte und das
Rätselraten der Kinder an. In deren Alltag sind Dinosaurier zwar außerordentlich
präsent, aber eben doch nicht so real, dass sie Spuren im Schnee hinterlassen. Etwas
blauäugig fand ich den knappen Zeitplan (zwei Jahre!) für die Ausarbeitung seiner
Dissertation, zumal Künstlern der Ruf vorauseilt, eher nach Lust und Laune als nach
striktem Arbeitsplan vorzugehen. Tatsächlich verzögerte sich die Abgabe der Arbeit um
knapp ein Jahr, allerdings aus anderen Gründen als von mir vermutet.
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Dworsky mit Dino-Schneeschuhen
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Lepusaurus rex, ein von Dworsky zum Dino manipulierter Rest eines Hasenbratens
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Der klug gewählte Aufhänger für Dworskys Dinosaurierarbeit ist ein Neujahrs-Hasenbraten oder genauer
gesagt der Rest eines Hasenbratenmenus. Als er den betrachtete, sei er auf die Idee gekommen, das
Knochengerippe etwas auseinander zu brechen und dann so zusammenzustecken, dass im Nu etwas entstanden
sei, dass so aussähe wie ein typisches Saurierskelett. Dem Ergebnis gibt er den Namen Lepusaurus rex.
Das ist eine Kombination aus Lepus, dem Gattungsnamen des Hasen und Tyrannosaurus rex, dem
wissenschaftlichen Namen für den bekanntesten Dinosaurier. Dworsky folgerte: Wenn es so einfach
ist, einen Dinosaurier aus einem Hasen zu (re-)konstruieren, wie vertrauenswürdig sind dann die
Saurierskelette, die von Wissenschaftlern zusammengesetzt und in Naturkundemuseen präsentiert
werden. Um dies zu untersuchen, gräbt Dworsky nicht nach Knochen, sondern nach Ideen, Bildern und
Theorien. Konzeptionell stützt er sich dabei auf den französischen Wissenschaftsforscher Bruno Latour.
Der hat eindrücklich gezeigt, dass nicht nur Artefakte, sondern auch Naturphänomene kulturelle
Konstrukte sind. Er bezeichnet sie als Faitiche. Dieser französische Neolologismus setzt sich
zusammen aus fait (Faktum) und fétiche (Zauber oder Einbildung).
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Tom Nagy
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Lars Kingeinstein
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Fossile Saurierskelette werden nicht so lebensnah wie in dieser, für eine Werbekampagne gefakten Fundstätte angetroffen.
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Saurierfossilien liegen in der Regel als chaotische Anhäufungen von Knochen vor, wie bei dieser berühmten Fundstätte in Utah/USA.
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Der Dinosaurier ist also gleichzeitig real und erfunden – ein Hybridwesen aus Fakt und Fiktion, das einem kulturellen
Wandel unterworfen ist. Dagegen wollen uns die Naturwissenschaften immer wieder weismachen, dass Dinosaurier nur ein
populär gewordenes fossiles Faktum sind. Dworsky zeigt, dass die wissenschaftliche Konstruktion von Dinosauriern aufs
engste mit den technischen Entwicklungen des Films verknüpft ist. Bedingt durch die Stop-Motion-Technik in Filmen
wie »The Lost World« (1925) erhielten die Saurier ihre träge, kantig mechanische Motorik. Der Regisseur Steven Spielberg
hat dann 1993 mit seinem Film »Jurassic Park« durch computeranimierte Bilder so etwas wie einen Paradigmenwechsel in der
Wissenschaft ausgelöst. Der Saurierpaläontologe Robert T. Baker (1996) resümiert: Einige der besten Ideen über Form
und Bewegungsabläufe der Dinosaurier stammen von Filmleuten! Der Paläontologe Stephen Jay Gould (1995) stellt fest: Bereits
bekannte Fossilien wurden neu interpretiert und in den Naturkundemuseen werden die bisher statisch dargebotenen Saurierskelette
aufgerichtet, laufend und fast schwebend präsentiert. Gefragt sind nicht mehr gigantische versteinerte Knochen, sondern Indizien
für soziale Lebensweisen, Agilität und Vogelähnlichkeit. Die Entwicklung kulminierte später darin, dass in der zweiten Hälfte
der 1990er Jahre in China die ersten gefiederten Dinosaurier entdeckt wurden.
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Georg Scharf, 1833
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Benjamin Waterhouse Hawkins, 1853
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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Dinosaurier als überdimensionale Eidechsen gesehen.
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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Dinosaurier von dem britischen Naturforscher
Richard Owen säugetierähnlich als Krone der reptilischen Schöpfung und Bollwerk gegen erstarkenden
Evolutionismus dargestellt.
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Um den Wandel der Dinosauriervorstellungen in den letzten 200 Jahre greifbar zu machen, konstruiert Dworsky
Idealtypen. Sie bilden nicht die äußerst komplizierte Wirklichkeit ab, sondern sind zu heuristischen Zwecken
überhöhte Hypertypen: Das ursprünglichste Saurierbild ist die Rieseneidechse, die mit der Vorstellung der
Urwelt als Hölle gekoppelt war. Darauf folgt die Vorstellung des Dinosauriers als Krone der reptilischen
Schöpfung, die ein Bollwerk gegen den (prä-)darwinistischen Evolutionismus und ein Spiegelbild viktorianischer
Machtgelüste war. Der Saurier des beginnenden 20. Jahrhunderts war der rasante und durch die Lüfte springende
Zweibeiner, der mit dem Tanz und Geschwindigkeitsrausch der Roaring Twenties einherging. In weiten Teilen
des 20. Jahrhunderts wurde der Dinosaurier als schwerfälliger Koloss gesehen: Gigantisch, dumm und amerikanisch,
ein symbolisches Abbild des Großkapitalismus. Das Atomzeitalter und der Kalte Krieg spiegelten sich dagegen im
Schizosaurus, d. h. im Kampf zwischen den fossilen Supermächten Saurischia und Ornithischia wider. Dem ultimativen
Asteroideneinschlag folgte wie dem drohenden Atomkrieg ein nuklearer Winter. Wer mag da an Zufall glauben, dass
es gerade der entscheidend am Bau der Atombombe beteiligte Physiker Luis W. Alvarez war, der später die Theorie
aufstellte, dass die Dinosaurier durch einen Asteroideneinschlag ausgerottet wurden.
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Charles R. Knight, 1897
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Joe Tucciarone, 1999
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Dinosaurier wie hüpfende Kängurus und tollende Hundwelpen
dargestellt. Die hier abgebildeten Dinosaurier der Gattung Laelaps tragen heute den Namen Dryptosaurus.
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Der Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus spiegelt sich als urzeitlicher Systemkonflikt zwischen
Tyrannosaurus rex und Triceratops wider. Der alles vernichtende Overkill deutet sich im Hintergrund bereits an.
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Die Dinosaurier des Internetzeitalters nennt Dworsky postmoderne Informationsvögel. Sie sind ein besonders
komplexer Idealtyp, weil sie in verschiedenste Ideen zerfallen »… die Idee des kleine Dinosauriers, des
schnellen, des warmblütigen, der vogelartigen, des kunterbunten, des globalen, des nicht ausgestorbenen,
des in der Herde lebenden und in der Meute jagenden, des sowohl kreationistisch als auch evolutionistisch
instrumentalisierten, des weiblichen, des intelligenten, des biodigitalen und des zur Realität gewordenen
simulierten.« Dworskys detaillierte Ausarbeitung der Idealtypen ist ein gelungener Versuch, etwas Ordnung
in den Wirrwarr des Wandels der Dinosauriervorstellungen zu bekommen. Die tatsächliche Entwicklung
beschreibt er wie folgt:
»Die kulturelle Evolution, die dieses Hybridwesen aus Fakt und Fiktion in den
letzten 200 Jahren vollzogen hat, erscheint ähnlich weitreichend komplex und undurchsichtig wie seine
biologische Entwicklung während des gesamten Mesozoikums. Stränge von Ideen divergieren, entwickeln sich
unabhängig voneinander weiter und – was kulturelle Entwicklungen so ungleich schwerer begreiflich
macht – verschmelzen wieder.« Hier möchte ich korrigierend ergänzen, dass auch biologische Entwicklungslinien
schwer durchschaubar sind, weil sie ebenfalls dazu neigen, wieder zu verschmelzen (z. B. durch artübergreifende
Hybridisierungen, horizontaler Genverkehr oder (Endo-)Symbiosen).
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Luis V. Reys, 1999
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»The New Chinese Revolution« zeigt die postmodernen Dinosaurier als eine knallbunte Horde tollwütiger
Hühner, die auch auf Bäume klettern und so die Entwicklung des Vogelflugs veranschaulichen.
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Das Titelbild von Dworskys Buch ist eine Persiflage auf ein altes Godzilla-Filmplakat aus den 1950er
Jahren. Den damaligen Plakatslogan »Der sensationellste Film der Gegenwart« hat er ironisierend
in »Das sensationellste Buch der Gegenwart« geändert. Damit liegt er nicht ganz falsch, denn sein ebenso
erstaunliches wie prächtiges Buch ist ein intellektuelles Lesevergnügen und dazu auch noch mit vielen
anschaulichen Bildern und intelligenter Grafik ausgestattet. Der Literaturkritiker Thomas Wörtche
bezeichnet es in seiner Rezension »Nix als Dinos« auf CULTurMAG
als »ein Musterbeispiel, wie man
aus Themen der ›Populären Kultur‹ (...) spannende Bezüge zu fast allen gesellschaftlichen Bereichen
herstellen kann (...) und, wie sehr Kontexte auf alles einwirken, was wir unterbewusst für selbstverständlich
und sogar evident halten.« Einem dieser gesellschaftlichen Bereiche, nämlich der Hardcore-Naturwissenschaft,
wird dieses Buch vermutlich gar nicht gefallen. Sie glaubt bekanntlich, sie würde ihr Bild von Dinosauriern
ausschließlich aus fossilen Funden und paläontologischem, biologischem und technischem Wissen rekonstruieren.
Von Dworsky wird dies auf überzeugende Weise als sehr einfältiges Bild vom wissenschaftlichen Fortschritt
bei der Erforschung von Dinosauriern entlarvt. Die urweltlichen Dinosaurier sind offenbar nicht nur Kindern,
sondern auch Naturwissenschaftlern so sehr Projektionsfläche für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse, dass sie
ihnen faktischer als manch lebende Kreatur erscheinen.
Nachbemerkung
Für den Saurierpaläontologen Robert T. Bakker sind Dinosaurier so etwas wie Masern, Mumps oder Röteln,
also eine Art Kinderkrankheit, die meistens nur Buben bekommen. Der Physiker Martin Bäker ist so ein ›Bub‹.
Auf ScienceBlogs betreibt er mit »Hier wohnen Drachen« einen der qualifizierteren Blogs. Seine Blogposts über
Dinosaurier gehören zu den besten biologischen Beiträgen, die auf ScienceBlogs zu lesen sind. Nach eigener
Darstellung hat er sich als Grundschüler mit Dinosauriern infiziert, als er den Film »Reise in die Urwelt« sah.
Das mühsame Herauspräparieren von Dino-Knochen aus umgebenden Gestein erschien ihm allerdings als Kind schon
wenig attraktiv. Er studierte daher Physik, ein Fach, das ihn auch interessierte und spezialisierte sich
später auf die Erforschung des mechanischen Verhaltens moderner Werkstoffe. Das tat seiner Faszination für
Dinosaurier aber keinen Abbruch. Im Gegenteil anknüpfend an sein Spezialgebiet beschäftigte er sich mit der
Biomechanik der Bewegung von Dinosauriern. Es gelang ihm sogar, Anschluss an die Garde der Dinosaurierforscher
zu finden und als Koautor in einem paläontologischen Fachmagazin darüber zu publizieren. Wir sehen, Bäker ist
ein beharrlicher und intelligenter Wissenschaftler, dem es wenn auch auf Umwegen gelungen ist, seinen
Kindheitstraum zu leben. Allerdings glaubt er – wie so viele Naturwissenschaftler – sich mit reinen
Naturphänomenen zu beschäftigen, also Dingen, die alles andere als kulturelle Konstrukte sind und einem
komplizierten kulturellen Wandel unterliegen.
Ich bin daher sehr gespannt, ob es Dworsky mit seinem ›sensationellen Dinosaurier-Buch‹ gelingt, seine
Grundüberzeugungen zu irritieren und ihn ein stückweit aus der erkenntnistheoretischen Sackgasse
herauszuführen, die ihn immer wieder blockiert.
G.M.,01.10.11