Über die Wahrnehmung und Wirkung starker Umweltgifte
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»Aschenputtel im Öl« |
AFP/Yousuf Nagori |
»Läuft aus einem havarierten Tanker vor der Küste eines westlichen Landes Öl aus, eilen Umweltschützer herbei, um
schwarzverklebte Vögel zu retten und sie zu reinigen. Dieses pakistanische Mädchen eilte nach der Kollision zweier
Züge in der Nähe ihrer elterlichen Hütte herbei, um mit Blechnäpfen auslaufendes Erdöl aus einem von sechs entgleisten,
umgestürzten und beschädigten Waggon von den Gleisen zu sammeln. (..)
Fast ein Viertel der Bevölkerung Pakistans lebt unter der Armutsgrenze, davon 16 Millionen Kinder. Die Armut
zwingt viele Eltern, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken. Oft müssen sie unter gefährlichen Bedingungen arbeiten.
Pakistan gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Alphabetisierungsrate - ein großes Reservoir für Extremisten
aller Art.«
Diese Kurzmeldung der Berliner Zeitung vom 12./13. September 2009 bringt das enorme ethische und soziale
Konfliktpotenzial auf den Punkt, das dieses Foto dokumentiert. Es gibt offenbar je nach Lebensstandard völlig
unterschiedliche Verhaltensweisen, wie Menschen auf eine Ölhavarie regieren. Zum einem die eines Umweltschützers
aus einer Wohlstandsgesellschaft, der herbeieilt, um ölverklebte Vögel zu retten, und dann die eines Kindes aus
einer Elendsgesellschaft, das herbeieilt, um ausgelaufenes Öl als willkommenes Zubrot für seine notleidende Familie
aufzusammeln.
Versuchen wir uns einmal vorzustellen, was passiert, wenn diese Verhaltensweisen aufeinandertreffen, also wenn
entschlossene Greenpeace-Aktivisten, die ölverklebte Vögel einsammeln und reinigen, auf ein ölverschmiertes Kind
stoßen, das mitten in einer Öllache sitzt und mit einem Blechnapf Öl in einen Eimer schöpft. Würden sie es
ignorieren, weil es nicht in ihr Suchraster Rettung einer durch die westliche Zivilisation bedrohten unschuldigen
Tierwelt passt? Oder würden sie es in einem Anflug von Menschlichkeit oder gar im Übereifer1) genau wie die
ölverschmutzten Vögel aufsammeln und nach der Reinigung wieder in die Freiheit entlassen?
Gehen wir einmal von dem zweiten wahrscheinlicheren Fall aus und fragen, ob dieses ölverschmierte Kind überhaupt
von den eifrigen Umweltschützern eingesammelt und gereinigt werden möchte? Sicher nicht, denn es weiß genau, dass
seiner ums Überleben kämpfenden Familie wenig damit gedient wäre, wenn es zwar sauber aber ohne Öl nach Hause kommen
würde. Und so ist es sehr wahrscheinlich, dass es kaum in die Freiheit entlassen, wieder an den Ort der Havarie
zurückkehren würde, um seine gesundheitsgefährdende Arbeit noch emsiger fortzusetzen. Fürwahr, ein unangenehmes
Szenario, das dieses Bild heraufbeschwört!
Wir können daher von Glück reden, dass ölverschmierte Vögel in der Regel an den Küsten reicher Industrie- und
nicht den Küsten armer Entwicklungsländer gerettet werden. Und so können wir uns bei einer Ölhavarie mit gutem
Gewissen für die Rettung ölverschmutzter Seevögel einsetzen und wenn die Sternsinger kommen für die Rettung der
armen Kinder in der Dritten Welt spenden. Doch nicht immer ist die Welt so strukturiert, dass es uns möglich ist,
die Lösungen für Probleme in der Welt so zu organisieren, dass es zu keinen schwerwiegenden Konflikten zwischen
konkurrierenden ethischen Grundüberzeugungen kommt.
Der Journalist Bartholomäus Grill hat zu dieser Problematik einen aufschlussreichen Bericht veröffentlicht2):
Er handelt von einem, an der Südküste Afrikas gelegenen Städtchen namens Simons Town. Die überwiegende Zahl
seiner Bewohner ist stolz auf die etwas unterhalb an der Boulders Beach gelegene, sorgsam gehegte Kolonie
von Brillenpinguinen. Als dort 2001 ein Frachter havarierte und mit Tonnen von Dieselöl die Nistplätze der
Pinguine verseuchte, kam es zu einer beispiellosen Hilfsaktion von Abertausenden Freiwilligen, die sich daran
machten, die Pinguine zu retten. Über 20.000 Vögel wurden per Helikopter in eine verlassene Eisenbahnhalle
evakuiert und im Schichtdienst in bis zu 15 Waschgängen gereinigt.
Die Internationale der Tierfreunde sprach von der größten Aktion, die je zur Rettung von Seevögeln unternommen
wurde und war hingerissen: Das überwältigende Mitgefühl, die spontanen Spenden und der unermüdliche Einsatz von
sage und schreibe 40.000, fast ausnahmslos weißen Nothelfern! Doch nicht alle Mitbürger des Städtchens waren
von soviel Gutmenschentum begeistert. So setzten Mitarbeiter eines Kinderhilfswerks eine Annonce in die Zeitung,
in der das Bild eines schwarzen Jungen zu sehen war, der sich Schmieröl über das Gesicht goss. Darunter stand die
provokante Frage: »Wirst Du mir jetzt helfen?«.
Die ehrliche Antwort lautet wohl nein, denn erstens wollen - so Grill - weiße Südafrikaner mit der Erbschaft
des Elends, das die Apartheid hinterlassen hat, in der Regel nichts zu tun haben und zweitens verschafft es
oft mehr Befriedigung, die Not von Tieren als von Menschen zu lindern. In Not geratene Tiere geben einfach
die bessere Projektionsfläche für unsere menschlichen Sehnsüchte und Nöte ab, weil sie uns noch unschuldiger
und weniger verantwortlich für ihr Schicksal als ein in Not geratener Mensch erscheinen. Zudem kann
die stumme Kreatur im Unterschied zu hilfsbedürftigen Menschen nicht widersprechen oder Störendes sagen.
Das Bild thematisiert aber nicht nur ethische und soziale Konflikte, sondern es provoziert auch ästhetisch,
weil es zugleich schön und schockierend ist.3) Schön, weil das ölgeschwärzte kleine Mädchen seine Aufgabe mit
soviel Würde und Stolz zu bewältigen scheint, dass es auf den Betrachter fast wie eine kleine Prinzessin wirkt.
Schockierend, weil das Kind zweifellos von einem Erwachsenen zu einer Arbeit in einer ölverseuchten Umgebung
animiert wurde, in der sich ein Westeuropäer aufgrund des penetranten Gestanks und der enormen Gesundheitsgefährdung
nur mit Vollschutzanzug und Atemschutzgerät begeben würde.
Das Bild verfügt damit über genau jene Qualitäten, die wir von den schockierend-schönen Werbekampagnen der
Marke »United Colors of Benetton« kennen. Tatsächlich hat die Firma Benetton schon mit einem Bild geworben,
das eine Ölhavarie thematisiert. Es zeigt die Eleganz und Schönheit eines ölverklebten, zum Tode geweihten
Seevogels, der in der gleichen Haltung aller Seevögel auf der Welt schwimmt. Nur das rote Auge und die
glänzende Ölschicht sehen unnatürlich aus. Das Foto versinnbildlicht ein Paradoxon in unserer Gesellschaft,
denn keiner will solches Leid, aber keiner will auf Ölprodukte verzichten.4)
Wir haben nun zwei Bilder, die großes Leid und große Ungerechtigkeit auf ästhetisch ansprechende Weise darstellen. Einmal
einen in eleganter Haltung schwimmenden ölverklebten Vogel, der bald elendig sterben muss und dann ein anmutig anzuschauendes
öldurchtränktes Kind, das, ohne zu klagen, in einer extrem gesundheitsgefährdenden Umgebung arbeitet, um seiner Familie zu helfen.
Nehmen wir diese bizarre Konstellation zum Anlass, uns zu fragen, welches der Bilder stärker an unser Verantwortungsgefühl
appelliert und damit zu einer größeren Spendenbereitschaft führt? Ich befürchte, es ist das Bild mit dem ölverklebten Seevogel.
Und zwar nicht nur, weil in Not geratene Tiere die idealeren Projektionsflächen für unsere Sehnsüchte und Nöte sind,
sondern auch, weil das menschliche Elend in vielen Entwicklungsländern Dimensionen angenommen hat, die uns eine
Linderung als aussichtslos und daher als wenig befriedigend erscheinen lassen. Zudem gilt, je weniger lösbar ein
Problem ist, desto weniger Chancen hat es, überhaupt von uns wahrgenommen zu werden. An eine Formulierung von
Indira Gandhi anknüpfend kann man sagen, dass die Armut in der Welt nicht nur das schärfste Gift für die Umwelt,
sondern auch für unser ethisches Empfinden ist.
Anmerkungen
1) In den 1990er Jahren gab es einen bekannten Witz, der sich zugleich über die Körperfülle unseres damaligen
Bundeskanzlers Helmut Kohl als auch über die übereifrige Betriebsblindheit der internationalen Feuerwehrtruppe
zur Rettung der Welt Greenpeace lustig machte: Was würden deren Aktivisten machen, wenn sie Helmut Kohl am
Strand liegen sehen? In der Annahme, dass es sich um einen gestrandeten Wal handelt, würden sie versuchen,
ihn ins Meer zurückzuschieben.
2) Grill, Bartholomäus (2002): »Die heilige Kuh vom Kap Über Menschen und Pinguine: Anmerkungen
aus Südafrika zu einer schwierigen Koexistenz«. In: mare Nr. 30
3) Nach einer geistreichen Bemerkung ist das Schöne das Schreckliche, was wir gerade noch ertragen erkönnen.
4) Westermayer, Sonja (2001): Benettonschockwerbung (Seminararbeit),
http://www.westermayer.de/sonja/benetton.htm
G.M., 30.04.10