Das mächtige Bild vom pessimistischen Umgang des Menschen mit der Natur wendet sich häufig nicht gegen die gesamte
Menschheit, sondern fokussiert sich auf die ›Untaten‹ der expandierenden europäischen Zivilisation. Dies liegt daran,
dass es mit einem anderen Mythos rivalisiert, nämlich dem im 18. Jahrhundert entstandenen romantischen Klischee
vom »edlen Wilden«. In diesem Bild werden die Bewohner nichteuropäischer Kulturen zu einfachen, unkomplizierten
Menschen verklärt, die noch im idealen Naturzustand leben und deren Verhalten noch nicht durch zivilisatorische
Einflüsse wie Gesetzen, Regierungen, Eigentum oder sozialen Teilungen verdorben ist.
Der »edle Wilde« wurde somit zum Vehikel einer umfassenden Kritik an den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Seinen literarisch erfolgreichsten Niederschlag hat das Bild vom »edlen Wilden« in den Reden des fiktiven
Südsee-Häuptlings Tuiavii gefunden, die um 1920 unter dem Titel »Der Papalagi« erschienen sind. In den 1970er
Jahren erlebte diese frömmelnde Zivilisationskritik eine Wiedergeburt, in dem das neuaufgelegte Büchlein zu einem
Bestseller der Alternativbewegung wurde [Griep 1984]. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch Anfang der
achtziger Jahre in einem missionarischen Anfall zwanzig ›Raubkopien‹ dieses Büchleins an befreundete Studenten verteilt haben.
Eine in der ›grünen‹ Umweltbewegung sehr erfolgreiche Variante des »edlen Wilden« ist der »Öko-Wilde«, der im Einklang
mit der Natur lebt. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der »Öko-Indianer«, der in den Augen von Naturschützern, wie ein
Landschaftsgärtner durch die Prärie zieht und nur soviel Büffel tötet wie er unbedingt benötigt. Dieser »Öko-Wilde« ist
natürlich ein Trugbild, denn heute weiß man, dass außereuropäische Kulturen nicht weniger schonungs- und respektlos mit
der ›Natur‹ umgingen wie die expandierende europäische Zivilisation [Désveaux 1995, Krech 1999]. Tatsächlich standen
nichteuropäischen Kulturen häufig nur geringere technische Mittel zu Naturaneignung zur Verfügung.
Den ›Vogel‹ bei dieser Geschichte hat jetzt wohl der Direktor des Neanderthal-Museums in Mettmann Gerd-Christian
Wenger abgeschossen. In dem Artikel »Als der Mensch Neanderthaler raubte« (»Die Welt« vom 11.11.04) beschreibt
er das Leben des vor ca. 40.000 Jahren in Europa eingewanderten, anatomisch modernen Mensch wie folgt: »Die
Gruppen lebten nomadisch und zogen jeweils nach einigen Wochen weiter: Man nimmt an, daß die Jäger abschätzen
konnten, wann das weiterziehen notwendig war, um die Wildbestände nicht durch Überjagen zu gefährden«.
Nun gibt aus Jung-Paläolithikum bekanntlich keine historische Überlieferung, die uns von einem solchem ›landschaftsgärtnernden‹
Jagdverhalten berichten könnte. So bleibt nur der fossile Befund und der zeigt eher das Gegenteil: Steinzeitliche Großwildjäger
waren Opportunisten, die keine Skrupel hatten, ganze Herden über Geländeklippen zu stürzen oder wandernde Herden jahrhundertelang
an den gleichen Engpässen aufzulauern und zu massakrieren. Und zwar oft erheblich mehr Tiere als sie später ausschlachten
konnten. Solche Massaker sind sowohl aus Europa (Solutré in Frankreich) als auch aus Nordamerika (Olsen-Chubbock in Colorado
oder Head-Smashed-In in Alberta) bekannt [vgl. z. B. Fagan 1993].
Kurz: Nach allem was man heute über die jagdlichen Methoden von nomadisch lebenden Jägern weiß, ziehen diese nicht
weiter, um die Wildbestände zu schonen, sondern um Beständen zu folgen, die versuchen, dem Jagddruck auszuweichen.
Folglich ist hier wohl der »Öko-Wilde« mit dem Direktor des Neanderthal-Museums durchgegangen. Wenger liefert
damit ein anschauliches Beispiel dafür, wie das pessimistische Bild vom Umgang des Menschen mit der Natur, das
sich am Eindrucksvollsten in der Hypothese vom steinzeitlichen Massenmordes am Ende des Eiszeitalters niederschlägt,
durch das Bild vom »Öko-Wilden«, in dem unsere steinzeitlichen Altvorderen als Landschaftsgärtner durch die
Mammutsteppe ziehen, kontrastiert werden kann.
Literatur
Désveaux, E. (1995): Les Indiens sont-ils par nature respectueux de la nature? – Anthropos, 90, St. Augustin, 435-444
Fagan, B.M. (1993): Das frühe Amerika – Archäologie eines Kontinents – München
Griep, W. (1985): Wir sind doch keine Wilden! Europäische Zivilisationskritik
in exotischer Verkleidung. – In: Theye, Th. (Hg): Wir und Wilden – Einblicke in eine kannibalische Beziehung. – Reinbeck, 288-317
Krech, S. (1999): The Ecological Indian: Myth and History. – New York
G.M., 15.12.04